Gerichtsmediziner Christian Reiter kennt das "Farbenspektrum des Todes".

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"Ein Gerichtsmediziner ist nur gut, wenn er viel gesehen hat."

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Nachschattengewächse & Co: Die Menge macht das Gift.

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Studienobjekt Schmeissfliege

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Man hat sie im Badezimmer gefunden. Ihr Körper war unverletzt, keine Spur von Gewaltanwendung, auch keine Krankheiten. Erst der Gerichtsmediziner konnte die Todesursache feststellen: Kohlenmonoxidvergiftung. Die Folge einer defekten Therme im schlecht belüfteten Bad. Ein Fall, der keine Seltenheit ist - und das Ergebnis der Obduktion möglicherweise lebensrettend für Nachmieter.

Heute könnte es passieren, dass solche Unfälle übersehen werden, denn im Department für Gerichtliche Medizin (DGM) in der Sensengasse im neunten Wiener Gemeindebezirk werden derartige Todesfälle seit vergangenen September nicht mehr obduziert. Die so genannten sanitätspolizeilichen Autopsien, durchgeführt an Toten, die außerhalb eines Krankenhauses sterben und deren Todesursache unklar ist, wurden an Gemeindespitäler ausgelagert und stark reduziert. Wegen der Änderung des Wiener Leichen- und Bestattungsgesetzes (WLBG) sind Leichenhaus und Seziersaal, durch Inkrafttreten der Novelle seit Jänner dieses Jahres geschlossen. (derStandard.at berichtete)

Baufälliges Haus

Im grauen zweistöckigen Zubau im 60er-Jahre-Stil, der das denkmalgeschützte Haupthaus umgibt, ist es still geworden. Nur zwei der an die 15 Parkplätze im Hof sind besetzt, die abgewetzten Holzsessel im Warteraum leer. Die grünen Schiefertafeln im Leichenhaus, auf denen einst die Belegung der Kühlfächer notiert wurde, sind blank gelöscht. Lediglich ein Name steht noch dort. Unleserlich mit Kreide geschrieben. Der dazugehörige Körper ist schon längst nicht mehr hier: die 120 Fächer hinter den schweren Metalltüren sind unbelegt. Das Licht der Fliegenfänger schimmert blauviolett auf dem abgetretenen gespachtelten Steinfußboden. An einigen Stellen klaffen zentimetertiefe Sprünge im Boden.

Einer der Gründe, warum hier nicht mehr gearbeitet werden darf: in den Ritzen des Bodens standen nach der Reinigung der Obduzierten Wasser und Blut. Die Abwässer konnten nicht, wie heute vorgeschrieben abgesondert und gereinigt werden, weil die Abflüsse des Hauses direkt in die Kanalisation münden. Die Leitungsrohre sind alt und brüchig, der Keller stand bereits mehrmals unter Wasser. Kritik hagelte es auch wegen der Fliegenmaden, die bei einer Kontrolle im Leichenhaus entdeckt wurden. "Die gehören in einer Gerichtsmedizin zum Alltag und haben nichts mit mangelnder Hygiene zu tun", sagt Christian Reiter, Leiter der forensischen Abteilung. Fliegenlarven sind nicht zu vermeiden - sie werden mit den Toten eingeliefert.

Keine Lehre ohne Leiche

Gegenwärtig sind das Reiters geringste Sorgen. Den 52-jährigen gebürtigen Wiener beschäftigt viel mehr, wie es um die Zukunft des DMG bestellt ist. Die Geschichte der Wiener Gerichtsmedizin reicht über 200 Jahre zurück; das Institut ist weltweit bekannt. Reiter und seine Kollegen haben an einigen internationalen Einsätzen teilgenommen, haben 2004 nach dem Tsunami in Thailand bei der Identifikation der Toten geholfen. Die neongelbe Warnweste mit der Aufschrift "Gerichtsmedizin" und "DVI-Team Austria", an einem Drahtkleiderbügel in Reiters Büro erinnert daran.

Bis der Sezierbetrieb am DGM eingestellt wurde, standen den vier Gerichtsmedizinern vier Sektionsgehilfen zur Seite. Heute sind es aufgrund der Einsparungen nur noch drei. Die Gesetzesnovelle soll die Zahl der sanitätspolizeilichen Obduktionen von bislang 1.500 jährlich um ein Drittel auf rund 1.000 reduzieren. Bisher hatte Österreich, mit landesweit 15.000 Autopsien jährlich, gemessen an der Bevölkerungszahl die höchste Obduktionsquote weltweit. Sie beinhaltete sowohl sanitätspolizeiliche Obduktionen, sowie jene, die an den Pathologien der Krankenhäuser durchgeführt werden und die gerichtsmedizinischen Untersuchungen, bei Verdacht auf Fremdeinwirken. Während im vergangenen Jahr zwischen Jänner und August noch 913 sanitätspolizeiliche Autopsien stattfanden, waren es in den sechs Monaten seit der Schließung nur noch 60. "Bei der ältesten und bislang erfolgreichsten Institution Europas ist das für die Stadt Wien wahrlich peinlich", sagt Reiter.

Was Reiter besonders bitter aufstößt: die Ausbildung der angehenden Gerichtsmediziner sei durch die geringe Zahl der Autopsien gefährdet. "Ein junger Gerichtsmediziner muss mindestens 2.000 Leichen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, seziert haben, um sich bei einem späteren Einsatz ein korrektes Bild machen zu können", sagt Reiter. "Ein Gerichtsmediziner ist nur gut, wenn er viel gesehen hat. Er muss die Bilder zahlloser Obduktionsergebnisse in seinem Gedächtnis speichern. Nur so kann er Ursache und Wirkung erkennen". Ohne Leichen aber keine Obduktionen. Die Ausbildung der drei angehenden Gerichtsmediziner, die gerade am DGM lernen, wird also schwierig. Bis zum Sommer soll eine Arbeitsgruppe über die Zukunft der Wiener Gerichtsmedizin entscheiden. Soll heißen, über einen möglichen Neubau von Leichenhaus und Seziersaal.

Gut kombinieren

Die Gerichtsmediziner dienen vielen Herren: neben Forschung und Lehrtätigkeit für die Medizinische Universität Wien, kommt die Funktion als Gutachter. Auf Selbstständigenbasis. Dabei werden entgangene Dienstzeit, Personal und Räumlichkeiten der Justiz in Rechnung gestellt und der Universität bezahlt – der Betrag schwankt von Fall zu Fall, übersteige aber den Verdienst des Gerichtsmediziners. "Der Sachverständige verdient für eine durchgearbeitete Nacht im Seziersaal netto ein paar hundert Euro. Bei einem Fehler muss er mit seinem Privatvermögen haften", sagt Reiter. "Zusätzlich hat die Uni den Vorteil, dass wir anhand dieser Leichen die nächste Generation von Gerichtsmedizinern ausbilden".

Neben ihrer Lehrtätigkeit und den eigenen Forschungsprojekten wechseln sich die vier Gerichtsmediziner wöchentlich beim 24-Stunden-Bereitschaftsdienst ab. Diese Nachtdienste sind unbezahlt. Das Einzugsgebiet erstreckt sich in einem Radius von 150 Kilometer rund um Wien: bis ins niederösterreichische Gmünd im Nordwesten, ins Mittelburgendland im Südosten, zum Semmering im Süden und nach St. Valentin im Westen. "Wir werden beispielsweise gerufen, wenn ein Verkehrsunfall passiert. Stellen Sie sich vor: eine Frau wird angefahren. Anhand der Höhe der Beinverletzungen, kann ich feststellen, ob der Fahrer vor dem Anprall gebremst hat, denn dann liegt die Stoßstange tiefer. Dazu muss ich natürlich auch die Höhe der Schuhabsätze des Opfers kennen", erzählt Reiter in seiner dozentenhaften Art zu sprechen.

Wo Gift ist, dort ist Tugend

Eigentlich wollte er Landtierarzt werden; Pferde und Kühe behandeln. Seine Begeisterung für Biologie hat ihn nie losgelassen. Auf den Holzregalen seines, etwa 15 Quadratmeter großen Büros im ersten Stock des DGM türmen sich Schädel, dazwischen auch Beckenknochen. Ganz oben stehen Vasen mit getrocknetem Schlafmohn, Stechapfel, Pilsenkraut und Weizenähren mit Mutterkorn aufgereiht. Paracelsus´Ausspruch "Ubi Virus; ibi Virtus" (Wo Gift ist, dort ist auch Tugend) prangt auf einem Aufkleber am Regal. An der Pinwand gegenüber, die beinahe über die gesamte rechte Längsseite des Raums reicht: Fotos eines jüngeren Reiter, der Ehrungen entgegennimmt und - Abbildungen von Fliegen in allen möglichen Entwicklungsstadien. Fliegen haben es Reiter schon seit 29 Jahren angetan. Damals hat er entdeckt, dass sich anhand der Insekten der Todeszeitpunkt von Leichen feststellen lässt.

Fliegenproblem

Fliegenlarven finden sich von Frühjahr bis Herbst praktisch an jeder Leiche, bei der der Verwesungsprozess eingesetzt hat. "Die Schmeissfliegen legen ihre Eier innerhalb weniger Stunden am Leichnam ab. Man kann anhand des Entwicklungsstadiums der Larven den Todeszeitpunkt bis auf einen halben Tag genau feststellen", sagt Reiter, der bis vor kurzem auch Vize-Präsident der Europäischen Forensischen Insektenkundler war. Weil die Tiere zäh sind, kann ihnen die Kälte des Leichenkühlhauses nichts anhaben. Sie macht sie lediglich langsamer.

Eben diese Fliegenlarven könnten in den kommenden Sommermonaten zum Problem werden: wegen der Schließung des DMG müssen Reiter und seine drei Kollegen derzeit auf Pathologien verschiedener Spitäler ausweichen. Zwar dürfen so genannten Faulleichen nur in Krankenhäusern, in denen die Pathologie in einem separaten Gebäude untergebracht ist, seziert werden. Also im Kaiser Franz Josef Spital und in Hietzing. Für die dortigen Pathologen gehören die Maden bisher aber nicht zum Arbeitsalltag. (19.03.2008, derStandard.at, Birgit Wittstock)