Das experimentelle Kino hatte früher als der Spielfilm Lust am Sex: Stan Brakhages "Love Making" ging freilich über die Darstellung des Geschlechtsverkehrs weit hinaus.

Foto: G. Wasner/Österr. Filmmuseum
Wien – "Es gibt viele Dinge, für die es sich zu leben lohnt." Der Mann, der da mit einem über den Kopf gewickelten Badetuch in die Kamera spricht, erscheint trotz seiner Ansage etwas unsicher. Er ist gerade aus der Dusche entstiegen. Parallel zu seinem Waschritual sah man auch einem Paar in einer anderen Duschkabine zu, das sich dort der ungestümen Leidenschaft füreinander hingab. Die Frau kommt nicht einmal dazu, sich ihre Bluse auszuziehen, und die Antennen, die man durchs Fenster sieht, wirken plötzlich sehr phallisch.

Hold Me While I’m Naked lautet der schöne Titel von George Kuchars Kurzfilm aus dem Jahr 1966, einem Kleinod der Filmgeschichte, das von einem Filmemacher erzählt, der in seinem neuesten Werk möglichst viele Nacktaufnahmen unterbringen möchte. Das Medium will er also als Ventil für sein Begehren nutzen. Ironischerweise zeitigt es aber andere Effekte als die, welche intendiert waren: Das Schauspielerpaar findet auch nach dem Dreh Spaß aneinander, während der Filmemacher einsam und depressiv zurückbleibt.

Kuchars Film ist ein richtiges Do-it-yourself-Produkt aus einer Zeit, in der der Undergroundfilm viel näher am Zeitgeist war als das kommerzielle Kino. Die satirisch gebrochene Freizügigkeit, mit der hier Sexualität ins Bild gerückt wird, war seiner Zeit ebenso voraus wie der Minimalismus eines Andy Warhol, dem es in Blow Job nur mit dem Gesicht eines Mannes zu zeigen gelang, dass es in alle Richtungen noch beträchtlichen Spielraum gab. Nur wenige Jahre später sollten, analog zu gesellschaftlichen Tendenzen, explizite Körperbilder von allen Seiten ins Kino drängen und eine Zeit lang Fragen im Raum stehen, wie sich diese Kunst zum bis dahin streng tabuisierten Sexualakt verhält – und ob so etwas wie ein avanciertes erotisches Kino neben der Pornografie eine Chance hat.

Die Auswahl an dem Kino der "sexuellen Befreiung", die das Filmmuseum nun zu einer Retrospektive zusammengestellt hat, umfasst den Zeitraum von 1963 bis 1976 und will der Mannigfaltigkeit dieses Aufbruchs Rechnung tragen. Angelehnt an das einflussreiche Buch des US-Publizisten Amos Vogel heißt sie Kino wider die Tabus und bildet ein breites Panorama an sexuellen Spielarten ab, das sich auf ähnlich viele formale Positionswechsel einließ.

Aus verschiedenen Welten

Vom experimentellen Transvestitenreigen Flaming Creatures eines Jack Smith, in dem Geschlechtsteile wie Trophäen aufblitzen, über Bertoluccis existenzialistische Paarbewältigungsstudie Der letzte Tango in Paris bis zu Joe Sarnos pansexuellem Gewusel entzückter Leiber, Abigail Lesley is Back in Town: Das Austesten neuer Grenzen der Darstellbarkeit vereinte Filmemacher, die bis dahin in kulturell voneinander geschiedenen Welten agierten. Die Frage, ob es auch einen gemeinsamen Raum ohne gemeinsamen Feind geben konnte, stellte sich erst später.

Die bis in die Sechzigerjahre wirksame Unterscheidung von industriell gefertigten Spielfilmen ohne explizite Sexualität, Arthouse-Filmen (zumeist aus Europa, wo man sich gerne freizügiger gab) und den auf dem kleineren 16-mm-Format gedrehten Stag-Filmen, die meist nur im privaten Kreis liefen, wurde jedenfalls unscharf. In den USA lag das auch am Ende des Production Codes und den gelockerten Regeln des neuen Klassifizierungssystem. Ein neuer Markt begann sich abzuzeichnen.

Natürlich gab es weiterhin Kämpfe mit Zensurbehörden, und oft trugen Stellvertreterfilme sie aus. Der schwedische Spielfilm Jag är nyfiken – Gul (Ich bin neugierig – Gelb, 1967) von Vilgot Sjöman war eine dieser Arbeiten, ein Importskandal, der indirekt auch Terrain ebnen sollten. Die Geschichte der jungen Lena, die ein moralisch und politisch erstarrtes Schweden aufzurütteln versucht – was der Film durch ein selbstreflexive Handlungsebene als dokumentarisches Projekt ausgibt –, verknüpft der Film spielerisch mit dem turbulenten Liebesleben der Heldin. Geschlechtsverkehr nimmt darin eine völlig ungezwungene – und gerade deshalb so wirkkräftige – Rolle ein, ob im Freien auf einem Baum oder im eilig zusammengeschusterten Liebesnest.

Neben solchen kulinarischen Skandalfilmen aus dem Arthouse-Bereich oblag es dem experimentelleren Kino, den Körper in seiner ganzen Nacktheit zu präsentieren, wobei der Wiener Aktionismus das gefällige Körperbild vielleicht am konsequentesten unterlief. Auf der anderen Seite trieben vereinzelte Autoren wie der Belgier Thierry Zéno die Auseinandersetzung mit Sexualität in Zonen voran, die tatsächlich noch einmal an Tabus rührten: Vases de noces (1974) erstellt in rauen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein irritierend lyrisches Porträt eines Bauern, der mit seiner Sau nicht nur den Stall teilt. Die Erzählung erweitert sich zum Melodram, als das Tier Junge wirft und der tödliche Kreislauf der Natur mit der Ökonomie des Begehrens in keine gemeinsame Ordnung gebracht werden kann. Mensch und Tier tauschen hier sozusagen Plätze.

Zénos "film maudit" ist nicht zuletzt deshalb eine recht singuläre Kinoerfahrung, weil er dem Triebhaften mit einer Form von Ehrerbietung begegnet. Kein Wort wird in diesem Film gesprochen, nur Tierlaute sind zu hören, manchmal auch klassische Musik. Amos Vogel nannte den Film "eine Hymne auf das Glück und die Lebensbejahung". Das ist natürlich eine gezielte Polemik gegen alle, die sich dem guten Geschmack verpflichtet sehen – und gegen jene, die aus Sexualität nur Pornografie machen. (Dominik Kamalzadeh, STANDARD/Printausgabe, 19.03.2008)