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Foto: AP/ Chris O'Meara
Für Jimmy Wales hat man seit der Gründung der Online-Enzyklopädie Wikipedia viele Bezeichnungen gefunden. Er sei der wohltätige Diktator, digitale Evangelist und spirituelle Führer zehntausender Freiwilliger, die Wikipedia zu einer der zehn meistbesuchten Websites machten. Sue Gardner, Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation, stellte er sich scherzhaft als die Queen vor, die ihrem Volk huldvoll zuwinke. Dass die Medien Skandale aus dem Königshaus lieben, musste nun auch Wales in den vergangenen Wochen am eigenen Leib erfahren, wie die New York Times berichtet.

Schmutzige Wäsche waschen

Vergangenen Monat Wales beschuldigt, er habe den Wikipedia-Eintrag der ehemaligen TV-Kommentatorin Rachel Marsden manipuliert, mit der er auch liiert war. Die Gerüchte erhielten weiteren Zündstoff, nachdem E-Mails von Wales und Marsden zu dem Thema auf einer Klatsch-Seite veröffentlicht worden waren. "Jimmy änderte meinen Wikipedia-Eintrag freiwillig, nachdem wir uns näher gekommen waren. Vorher kümmerte er sich überhaupt nicht darum", soll Marsden geschrieben haben. Wales hatte zum Klatsch seinerseits beigetragen, indem er Anfang März auf seiner eigenen Website das Ende der Beziehung verkündet hatte. Die Kolumnistin hatte daraufhin alte T-Shirts, die Wales in ihrer Wohnung vergessen hatte, bei eBay versteigert. Für ein Shirt soll prompt ein Gebot von 500 US-Dollar eingelangt sein.

Restaurant-Besuche mit Spendengeldern finanziert?

Daneben sah sich der Wikipedia-Mitgründer mit den Anschuldigungen des ehemaligen Mitarbeiters Danny Wool konfrontiert, Wales habe private Rechnungen von seinem Spesenkonto abgebucht. In beiden Fällen hatte Wales die Vorwürfe falsch gehandelt zu haben von sich gewiesen. Unterstützung erhielt er von Gardner. Sie habe sich selbst ein Bild davon gemacht und zeigte sich zuversichtlich, dass Wales die Fonds-Gelder nicht für private Zwecke verwendet habe.

Rasantes Wachstum

Die Anschuldigungen scheinen symptomatisch für die wachsenden Probleme zu sein, mit denen Wikipedia durch seine zunehmende Popularität derzeit konfrontiert wird. Das Nachschlagewerk wuchs innerhalb weniger Jahre zu einer der zehn meistbesuchten Seiten mit über 2,2 Millionen englischsprachigen Artikeln. Alleine im vergangenen Dezember verzeichnete sie Site laut comScore Media Metrix rund 52 Millionen Unique Visitors aus den USA. Der Markenname Wikipedia rangiert auf einer Ebene mit Microsoft, Google und Yahoo. Das Budget konnte von 2,2 Millionen Dollar auf 4,6 Millionen Dollar in diesem Jahr mehr als verdoppelt werden.

Umzug in die Nähe des Silicon Valley

Allerdings beschäftigt die Online-Enzyklopädie nur 15 fixe Mitarbeiter. "Überraschend viele Leute wissen nicht, dass es eine Nonprofit-Organisation ist", so Sue Gardner. Viele glauben, dass sich die Online-Enzyklopädie über Werbung finanziere. Tatsächlich wird das Projekt mit Spendengeldern finanziert. Der Umzug des Unternehmens von St. Petersburg/ Florida nach San Francisco in die Nähe von Silicon Valley gilt als Versuch, Wikipedia weiter zu professionalisieren. Die Mitglieder der um den Globus verstreuten Wikipedia-Community hängen jedoch stark an der dezentralen Struktur und nichtkommerziellen Prinzipien fest.

Finanzinvestoren an Wikipedia interessiert

Neben der kürzlich wieder aufgeflackerten Diskussion um Werbeschaltungen, die bislang immer abgelehnt wurden, warf auch das enge Verhältnis der Organisation zu Roger McNamee vom Finanzinvestor Elevation Partner Fragen auf. Mitarbeiter hatten Vorbehalte gegenüber der Zusammenarbeit mit McNamee geäußert. Wales sagte in einem Interview, dass Elevation Partners zunächst geschäftlich an Wikipedia interessiert gewesen sei. Nach dem ersten Meeting sei jedoch klar gewesen, dass das nicht funktioniere. "Es kann natürlich keine Investition in Wikipedia geben. Wikipedia ist eine Nonprofit-Organisation und wird es immer bleiben", fügte Wales hinzu. Auch andere Investoren hatten Interesse an dem Projekt bekundet, wurden aber darauf hingewiesen sich woanders umzusehen. Aus den Gesprächen mit Elevation Partner erwuchs jedoch eine Verbindung zu McNamee, der nicht müde wird zu betonen er arbeite freiwillig und unabhängig von seiner Firma. Laut Sue Gardner konnte McNamee bereits zweimal rund 500.000 US-Dollar an Spendengeldern aufstellen. Er selbst wollte das nicht bestätigen, bekräftigte jedoch Wikipedia in punkto Strategie, Geschäftsentwicklung und Fund Raising ehrenamtlich auszuhelfen.

Hohe Spendenflüsse überprüfen

Wikimedia-Mitglied Florence Nibart-Devouard hatte sich ob dieser Beziehung weniger enthusiastisch gezeigt. Die Spenden der Finanzinvestoren seien noch keine große Sache, aber sie fühle sich bei dem Konzept nicht wohl. Nibart-Devouard bevorzuge eine Vielzahl verschiedener Spender. "Ich hoffe, die Foundation verlässt sich nicht zu sehr auf diese Beziehungen." Vor kurzem hatte sie den Vorschlag gemacht, dass jede Spende, die mehr als zwei Prozent der Einkünfte ausmache, abgesegnet werden müsse.

Wikipedia-Spiel und TV-Show

Doch während sich Nibart-Devouard Gedanken über die Herkunft der Spendengelder macht, sorgen sich Wales und Gardner um die Zukunft. Die Finanzierung über Spenden hänge immer am seidenen Faden. Wales könne sich etwa eine umfassendere Nutzung der Marke Wikipedia vorstellen, zum Beispiel mit einem Wissensspiel oder einer Fernsehsendung. Elevation Partners könne bei solchen Vorhaben helfen. Trotz der Beziehungen zu Finanzinvestoren sei der Kern von Wikipedia jedoch unantastbar, so Wales. "Das ist für die Welt zu wertvoll um es zu zerstören".

Zu wenig Zeit für Wikipedia?

Einige Mitglieder vermuten darüber hinaus, dass Jimmy Wales nach der Gründung seines Unternehmens Wikia seine Tätigkeit bei Wikipedia reduzieren wird. Doch für Wales sei das keine Option. "Ohne es dramatisieren zu wollen, aber eine hochqualitative, freie Enzyklopädie zu schaffen und an jeden Menschen auf dem Planeten in seiner eigenen Sprache zu bringen, das ist, was ich bin. Das ist mein Leben und mein Ziel", zeigt sich Wales von seiner führenden Rolle nach wie vor überzeugt. Derartige visionäre Führungspersönlichkeiten seien laut Professor Henry Mintzberg von der McGill Universität für ein Unternehmen am Anfang zwar entscheidend. Doch diese Personen müssten zielstrebig und alleine auf ihre Vision fokussiert sein. Normalerweise verringere sich die Rolle dieser Führungsperson mit der Zeit. Und das wusste schon Bertold Brecht: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat."

Held der Online-Community

Abgesehen von den jüngsten Attacken ist Wales innerhalb der Wikipedia-Community mit seinen Auftritten auf Kongressen und dem World Economic Forum und einer Einladung zur Geburtstagsparty von Finanz-Guru George Soro aber zweifellos noch immer ein Held. "Die Menschen möchten zu jemanden aufsehen", formuliert es Wikimedia-Geschäftsführerin Sue Gardner. Es werde immer ein Bedarf dafür bestehen, was Wales biete. (red)