Marienthaler Arbeiter an der Feilbach-Brücke, Hauptstraße. Im Hintergrund rechts das Arbeiterwohnheim Spitalhof.

Foto: DER STANDARD/Hans Zeisel
Wien - "Marienthal ist ein Mythos geworden, ein Mythos in den Wissenschaften", meint Reinhard Müller. Der Autor hat sich mit den Hintergründen der Arbeiterkolonie der Marktgemeinde Gramatneusiedl (NÖ) auseinandergesetzt; berühmt geworden ist die Kolonie als ein "Ort außerordentlicher Arbeitslosigkeit" über die vor 75 Jahren von Paul F. Lazarsfeld, Marie Jahoda und Paul Zeisel vorgelegte Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal".

Doch kaum ein Wissenschafter wisse mehr darüber, als in der Studie geschrieben steht. Der Soziologe und Philosoph vom Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ) an der Universität Graz lässt im Jubiläumsjahr einen Blick hinter den Mythos zu.

Als die in den 1920er Jahren prosperierende Textilfabrik Marienthal-Trumauer im Zuge der Weltwirtschaftskrise in Schwierigkeiten geriet und 1929/30 stillgelegt wurde, bedeutete dies eine soziale Katastrophe für die an das Unternehmen angeschlossene Arbeiterkolonie. Fast die gesamte Erwerbsbevölkerung der 1.200 Einwohner zählenden Siedlung wurde arbeitslos.

Materielle Not und psychische Verarmung

"Hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, weniger zu besitzen, weniger zu tun und weniger zu erwarten, als bisher für die Existenz als notwendig angesehen worden ist", schrieben die Wiener Sozialwissenschafter Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel in der Studie über die "müde Gesellschaft". Materielle Not und psychische Verarmung bestimmten den Alltag nach Schließung und Abriss der Fabrik. In den Jahren 1931 und 1932 führte ein 17-köpfiges Projektteam unter Leitung von Lazarsfeld die Forschungen in Marienthal durch.

Die Ergebnisse der bis dato ersten großen empirischen Studie über die Folgen langer Arbeitslosigkeit wurden im Juni 1933 unter dem Titel "Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit" im Leipziger "Verlag von S. Hirzel" präsentiert. Einer Übersetzung ins Englische im Jahr 1971 sollten noch viele weitere Übersetzungen folgen, darunter auch eine koreanische, ungarische, und polnische.

Die Hintergründe

In seinem Buch über "Marienthal. Das Dorf - Die Arbeitslosen - Die Studie" (StudienVerlag) will Müller die Hintergründe zur Studie, die spätestens seit den 1970er Jahren als Klassiker der empirischen Sozialforschung gilt, aufdecken. Der Autor zeichnet im ersten Teil des Buches einen historischen Rückblick, u.a. mit der Genese des Bauerndorfes, der Entwicklung der im frühen 19. Jahrhundert entstandenen Industriegemeinde, mit der Entfaltung einer frühen Pendlergemeinde nach der Fabrikschließung bis hin zur Wiederentdeckung Marienthals seit den 1970er-Jahren.

Im zweiten Teil analysiert der Autor Entstehung, Durchführung und Rezeption der "Marienthal-Studie", im dritten Teil sind Interviews aus den 1980er-Jahren des Grazer Soziologen Christian Fleck mit "Zeitzeugen" veröffentlicht: Gesprächspartner waren die Autorin des Haupttextes Marie Jahoda, Gertrude Wagner, damalige Angestellte der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle (Projektträger der Studie) und an der Bearbeitung des Materials beteiligte Mitarbeiterin sowie Lotte Schenk-Danzinger, die die Hauptarbeit bei der Feldforschung leistete.

Kultur und Politik

Sehr wichtig ist dem Autor die Darstellung des kulturellen, politischen und sozialen Lebens in Marienthal - abseits des "Mythos". Denn: "Es ist eine Fabrik und Arbeiterkolonie mit einer langen Tradition, und seine Bevölkerung änderte und entwickelte sich lange vor den 1930er-Jahren wie auch danach", so Müller in der Vorbemerkung des rund 420 Seiten umfassenden Buches. Informationen über Marienthal präsentiert der Soziologe auch auf einer Website der AGSÖ. (APA/red)