Schuschnigg -Plakat der Vaterländischen Front im März 1938.

Foto: DER STANDARD
Der österreichische Schriftsteller, Historiker und Publizist Wolfgang Koch liefert u. a. auch in regelmäßiger Folge "Wien-Blogs" für die deutsche "tageszeitung" (taz) und konfrontiert deren Leser in der jüngsten Folge seiner Online-Botschaften mit einer bemerkenswerten Neudeutung der berühmten Radio-Rede Schuschniggs am 11. März 1938 - und der Frage, warum diese nicht schlicht als "freche Lüge"qualifiziert werde.

Begründung: Das Bundesministerium für Landesverteidigung hat an diesem Tag die Konsignierung der Truppen in den Kasernen der Garnisonen angeordnet. Um 19.15 Uhr erfolgt die Weisung den einrückenden deutschen Truppen keinen Widerstand entgegenzusetzen. 14 Tage davor hat Schuschnigg "Rot-weiss-rot bis in den Tod!" gerufen. Nun verbietet er die bereits aktivierte Verteidigung den Divisions- und Brigadekommandanten. Bewaffneter Widerstand käme nun Befehlsverweigerung gleich, und darauf steht die Todesstrafe. Das bedeutet die Preisgabe der österreichischen Selbstständigkeit.

Gewiss hat Schuschnigg unter massivem Druck gehandelt - ein "erzwungener Willensakt" aber, wie es etwa die mexikanische Völkerbunddelegation sah, war es nicht. Der Diktator entschied frei und wurde von seinem Nachfolger im Dienstwagen nach Hause gefahren; unterwegs riet ihm Seyß-Inquart, in der nahen italienische Mission am Rennweg Unterschlupf zu suchen. (...) Hier war ein Täter am Werk, der sich als Opfer gerierte. Schuschniggs "Gott schütze ..." war eine listige Verstellung, die verdecken sollte, dass er durch den österreichischen Mythos innerlich mit der deutschen Expansionsideologie verbunden war. Sein Neuösterreichertum hatte sich vom Universaltraum der Habsburger nie wirklich abgewandt. (...)

Wie bitte würden Sie von einen Bankdirektor nennen, der, bevor Gangster sein Institut überhaupt betreten, die eigenen Securities fesselt? Einen Schuft. Was wurden sie von dem Mann halten, wenn er kurz darauf, die Pistole im Rücken, den verängstigten Kunden im Kassenraum erklärt, er weiche der Gewalt und trete als Direktor zurück, um jedes Blutvergießen unter Geschäftsleuten zu vermeiden?

Eine tragische Figur? Ein melancholischer Zauderer? - Sicher nicht, wir würden den Herrn wegen Beihilfe zum Bankraub unter Anklage stellen. (...) Erstaunlich ist, dass sich die Kollaboration bis heute als Wiege des österreichischen Nationalbewusstseins verkaufen lässt. Schuschnigg, so die Fama, sei zwar kein Demokrat, aber doch ein glühender Patriot gewesen. Die Wahrheit ist: Er vollendete nur die lange österreichische Tradition, sich selbst als Opfer der eigenen Aggression zu sehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.3.2008)