Erwin Sensel steht im 101. Lebensjahr, lebt seit 70 Jahren in Venezuela und singt von der Steiermark.

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"Denn in da Steiermark, da san d'Leut groß und stark, san wia die Tannabaam, bei uns dahoam." Diese Worte, lächelnd gesungen vom 100-jährigen Erwin Sensel, der seine Jugendtage im steirischen Geburtsort verbrachte und nun seit 70 Jahren in der venezuelanischen Hauptstadt Caracas lebt, bringen das Drama der Vertreibung auf menschlicher, emotionaler Ebene näher. Das ist es, was die ORF-Doku "Flucht ins Ungewisse" von Robert Gokl und Tom Matzek leistet.

Der zweite Film der dreiteiligen ORF-Serie rund um das "Anschluss"-Gedenken will das Schicksal jener 130.000 Österreicher ins Gedächtnis rufen, die durch Verfolgung des NS-Regimes in die Welt getrieben wurden. Jene, die es noch vor dem Auswanderungsstopp im Oktober 1941 schafften. Danach hat man "vorgezogen, sie zu töten", um es mit Sensels Worten über seine Familie zu sagen.

Neben Sensel erzählen noch drei Überlebende von ihrer österreichischen Kindheit, von der Dramatik der Flucht und von der Schwierigkeit, eine neue Existenz in der Fremde aufzubauen: Lieselotte Laub, die als 12-Jährige ohne ihre Eltern nach Palästina, in ein neues Kriegsgebiet, kam; Doris Ehrenstein, die mit ihrer Mutter über Frankreich und England nach Südafrika, ins Land der Apartheid kam; und Harry Weil aus Hohenems, der als Achtjähriger mit seinen Eltern in die USA emigrierte, sich nach eigenem Bekunden recht leicht ins neue Leben fügte, von einer Pferdefarm lebte und sich - gemeinsam mit seinem Sohn - den österreichischen Wappenadler auf die Schulter tätowieren ließ.

Die Porträtierten als Menschen, die nicht an ihrem Schicksal zerbrachen, die noch Glück im Unglück hatten, sind auch jene, denen aus ihren Erzählungen anzumerken ist, wie viel man ihnen mit der alten Heimat nahm. Für die große Menge der Vertrieben können sie aber nur bedingt als repräsentative Beispielfälle gelten. (Alois Pumhösel/DER STANDARD; Printausgabe, 13.3.2008)