"Romantiker und Apparatschik mit menschlichem Antlitz": Alexander Dubcek, KP-Reformer des Prager Frühlings, als tschechoslowakischer Parlamentspräsident im Jahr 1990.

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Wien – Dass die offizielle Politik hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen nachhinkt, dass die Bürger in ihrem Problembewusstsein meist schon viel weiter sind als die politischen Akteure, ist eine Binsenweisheit. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Macht blind macht.

Wie blind waren die Akteure des Prager Frühlings 1968, der mit der Wahl Alexander Dubèeks zum Chef der tschechoslowakischen KP im Jänner begann und mit der Warschauer-Pakt-Invasion im August endete? Eine Konferenz in der Wiener Diplomatischen Akademie lieferte erhellende Einblicke in die Geschehnisse. Und bestätigte damit, was Akademie-Direktor Jiøí Gruša, der als junger Schriftsteller damals selbst am gesellschaftlichen Gärungsprozess beteiligt war, eingangs sagte: dass eine sachliche Bewertung erst heute, 40 Jahre danach, beginne.

Was gerade einen Österreicher angesichts der neuentfachten Debatte über das Anschlussjahr 1938 nicht verwundern dürfte. Hier steuerte Emil Brix, Leiter der kulturpolitischen Sektion des Außenministeriums, einen neuen Aspekt der Ähnlichkeit zwischen Österreichern und Tschechen bei: „Wie die Österreicher nicht wissen, ob sie 1938 mehrheitlich für den Anschluss waren, wissen die Tschechen bis heute nicht, ob sie 1948 mehrheitlich für die Kommunisten waren.“

1948 holten sich die Kommunisten mit einem Putsch die ganze Macht, nachdem sie zwei Jahre zuvor bei freien Wahlen die relative Mehrheit errungen hatten – als einzige KP des Ostblocks. Danach folgte die Phase des Stalinismus mit Schauprozessen und Gleichschaltung, parallel dazu aber, wie der Prager Philologe Tomáš Glanc ausführte, ein Tauwetter in der Kulturpolitik, das dann in die „kulturelle Explosion der 60er-Jahre“ mündete. Die Literaturzeitung Literární noviny, das Hauptorgan der Reformbewegung, hatte in ihrer Blütezeit geschätzte 500.000 Leser.

In dieser diffusen Aufbruchstimmung wurde die Führungsrolle der KP zunächst nicht infrage gestellt. Auch nicht von Ludvík Vaculík, der mit seinem Manifest „2000 Worte“ den entscheidenden Reformanstoß gab, oder vom jungen Dramatiker Václav Havel, der von einem „demokratischen Sozialismus“ sprach.

Dubceks Illusion

Aber – und davon ist etwa der Prager Zeitgeschichtler Michal Kopeèek überzeugt: Es sei eine Illusion Dubceks gewesen, dass es in der Bevölkerung breite Unterstützung für einen demokratischen Sozialismus gegeben habe. „Die Mehrheit wollte eine weit größere Liberalisierung.“

Der slowakische Historiker Dušan Kovác hakte hier nach. Das von Dubcek im Mai 1968 präsentierte Reformprogramm („Sozialismus mit menschlichem Antlitz“) sei viel weniger gewesen, als die Menschen erwartet hatten: „Die Zeit war reifer als ihre Akteure.“ Einhaltung der Menschenrechte und unveränderter Führungsanspruch der KP sei ein unauflösbarer innerer Widerspruch. Dubcek sei ein Romantiker und zugleich ein „Apparatschik mit menschlichem Antlitz“ gewesen.

Vaculík wiederum hatte, wie er in der Schlussdiskussion am Mittwochabend versicherte, „gar keine Illusionen“. Es sei „ein außerordentliches, unerwartetes Erlebnis“ gewesen. Man habe einfach die Gunst der Stunde nützen wollen, ohne Sorge darüber, was herauskommen würde. Und herausgekommen sei schließlich „eine Belehrung, die „größer für die ganze Welt als für uns war“.

Für einen Hauptfehler der Reformer hält der Prager Historiker und Politologe Tomáš Vilímek, dass sie über den Druck aus Moskau nicht öffentlich sprachen: „Wenn sie, unter Hinweis auf den Kalten Krieg, gesagt hätten ,Mehr geht nicht‘, wäre die Bevölkerung vielleicht geduldiger gewesen.“ Daran knüpft Vilímek „die Frage, vor der ich mich immer fürchte: Wie konnte die Gesellschaft nach der Niederschlagung des Prager Frühlings so schnell in eine so tiefe Depression verfallen?“ Versuch einer Antwort: weil die Erwartungen und Hoffnungen so groß gewesen waren. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 13.3.2008)