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Strebern bis zum Umfallen lautet das heimliche Motto an vielen Deutschen Gymnasien.

Foto: ap/Grubitzsch
Deutschlands Gymnasiasten leiden. Und mit ihnen ihre Eltern. Seit die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre gekürzt wurde heißt es: Turbopauken. "G8 in dieser Form ist glatt Körperverletzung. In jedem Jugendknast wird mehr über die Versorgung der Insassen nachgedacht als über die unserer Schülerinnen und Schüler in den Schulen," so wird ein "Fuldaer Pädagoge" anonym auf der Website der Hessischen Elterninitiative "Turbo-Abi-Reform" zitiert.

2004 wurde die Einführung des G8-Abiturs - G steht für Gymnasium, 8 für acht Jahre - in den meisten Bundesländern Deutschlands beschlossen. In 14 der 16 Bundesländer lernen die SchülerInnen im G8-System. Zuvor besuchten die SchülerInnen für vier Jahre die Grundschule und maturierten nach neun Jahren Gymnasium. Bremen ist mit 2008 eines der ersten Länder, in dem SchülerInnen das G8-Abi ablegen werden. Im bevölkerungsstarken Bundesland Hessen werden 2013 die ersten G8-Absolventen die Schulen verlassen.

Fehlendes Schuljahr

Um das fehlende Schuljahr auszugleichen, müssen die Stunden in den einzelnen Schuljahren "eingearbeitet" werden. Ab der fünften Klasse werden 265 Wochenstunden bis zur Reifeprüfung in der Schule verbracht. "Was früher etwa in Mathematik und Latein Stoff der siebenten Klassen war, wird jetzt teilweise in der sechsten Klasse unterrichtet", kritisiert Sigrid Glotzbach-Rygol, eine Mitbegründerin der Initiative "Turbo-Abi-Reform" und Mutter eines Schulkindes, im Gespräch mit derStandard.at. "Die Kinder können das gar nicht begreifen", sagt Glotzbach-Rygol. Ihren Job als Englisch- und Spanisch-Lehrerin in einem Gymnasium hat sie vorerst an den Nagel gehängt. Täglich verbringe sie mit ihrem 12-jährigen Sohn Konstantin ein bis zwei Stunden damit, Hausaufgaben zu erledigen und das Lernen zu organisieren. Ihre Tochter bittet sie zu Hause täglich zum Diktat, "denn um kleine Schwächen auszumerzen, bleibt später im Gymnasium keine Zeit". Es mache sie unglücklich, ihre Kinder immer wieder zum Lernen zwingen zu müssen. "Ich war immer der Meinung, dass Hausaufgaben und Schularbeiten Sache der Kinder sind. Aber was bleibt einen anders übrig, als sie zu unterstützen, wenn sie es sonst nicht schaffen."

Sie sei in ihrem Umfeld nicht die einzige Mutter, die ihren Beruf vorerst auf Eis gelegt hat. "Enorme Probleme" hätten jene SchülerInnen, deren Eltern nicht die Ressourcen haben um mit ihren Kindern Hausaufgaben zu erledigen oder Nachhilfestunden zu bezahlen.

Jugend-Praxen als "Reparaturwerkstatt"

Konstantin geht in die siebente Klasse und verbringt in der Schule eine 34-Stunden-Woche. Meistens hat er sieben Stunden Unterricht – die erste und einzige Pause gibt es nach drei Stunden. Kinder und Jugendliche in Ganztagsschulen verbringen laut Glotzbach-Rygol durchschnittlich zehn Stunden in der Schule. Für das Familienleben und für Hobbies bliebe jedoch nicht nur GanztagsschülerInnen wenig Zeit. Nicht umsonst beklagen Deutschlands Vereine und Musikschulen einen starken Nachwuchsrückgang seit G 8. Klaus Kühn vom saarländischen Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bezeichnete im Spiegel die Kinder – und Jugend-Praxen als "Reparaturwerkstatt einer krankmachenden Schule". Deutschlands SchülerInnen klagen vermehrt über Stress-Symptome, viele haben Angst zu versagen. "In der Schule Versäumtes ist nur sehr schwer wieder aufzuholen", sagt Glotzbach-Rygol.

Wer plant eines der Numerus clausus-Fächer studieren, wird sich zudem doppelt anstrengen müssen. Durch die Umstellung auf G8 werden in den nächsten Jahren doppelte Abi-Absolventenjahrgänge erwartet. Spätestens ab 2010, 2011, wenn etwa das bevölkerungsstarke Bayern seine doppelte Abiturientenjahrgänge entlässt, wird es richtig eng auf Deutschlands Universitäten.

Dass ein Abtitur in acht Jahren Gymnasialzeit nicht unbedingt in ein Debakel enden muss, machen die neuen Bundesländer in Deutschland vor. Dort ist das G8-Abitur schon seit langem etabliert. Langsam reagieren die zuständigen Kulturminister auf die Elternproteste, die den "Diebstahl der Kindheit" durch G8 kritisieren. Versprochen wird Entlastung in den Gymnasien, den Schulen soll mehr Gestaltungsfreiheit gewährt werden. Doch die betroffenen bleiben skeptisch. "Das sind Tricksereien und Zahlenspielchen, mit denen die Öffentlichkeit hinters Licht geführt werden soll", sagte Marianne Demmer, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), zur Süddeutschen . (burg/derStandard.at, 16. März 2008)