Gerald Kral: "Wichtig ist, die Eltern für den Kampf gegen das Übergewicht zu gewinnen. Oft müssen aber auch sie ihre Ernährungsgewohnheiten überdenken."

Foto: Standard/Matthias Cremer

Alamande Belfor: "Manche Kinder haben schon monatelang versucht, selbst abzunehmen. Wenn sie ständig nur hören, dass sie zu fett und zu faul sind, klappt das nicht."

Foto: Standard/matthias Cremer
Ostern steht vor der Tür, in den Supermärkten sind die Schokoladehasen aufmarschiert - für zu dicke Kinder beginnt eine harte Zeit. Sabina Auckenthaler fragte nach Strategien gegen Übergewicht und bekam Antworten von zwei Spezialisten: dem Psychologen Gerald Kral und dem Tänzer und Bewegungsanimateur Alamande Belfor.

STANDARD: Sind die Eltern schuld, wenn Kinder übergewichtig sind?

Belfor: Eltern tragen Verantwortung für ihre Kinder. Genauso wie ein krankes Kind umsorgt werden muss, braucht ein Kind, das sich in seinem Körper nicht mehr wohl fühlt, Hilfe. Wenn zu Hause nur Süßigkeiten herumstehen, ist es kein Wunder, wenn das Kind danach greift. Eltern sollten also ruhig die Kekse und die Schokolade im Supermarkt lassen und dafür einen Obstkorb auf den Tisch stellen, und zwar mit schönem, ansprechendem Obst, das Lust macht.

Und: Sie sollten natürlich auch selbst hinlangen. Dasselbe gilt für die Bewegung. Es ist vielleicht mühsam, das Kind ein- oder zweimal in der Woche in einen Sportklub zu bringen oder mit ihm Radfahren zu gehen, aber es lohnt sich.

Kral: Eltern spielen oft eine wichtige Rolle bei der Gewichtszunahme und beim Aufrechterhalten des Gewichtes. Man muss aber mit dem Begriff "Schuld" sehr vorsichtig sein: Die Eltern machen es meist, so gut sie können, sie wollen dem Kind ja nicht absichtlich etwas Schlechtes tun.

Wichtig ist aber, die Eltern zu gewinnen, sodass sie das Kind beim Kampf gegen das Übergewicht optimal unterstützen. Das bedeutet auch, dass sie ihre eigenen Ernährungsgewohnheiten überdenken müssen. Wenn sie selbst nicht auf den fetten Braten verzichten wollen, können sie das schwerlich vom Kind verlangen.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Psyche für das Übergewicht bei Kindern?

Kral: Bei vielen, nicht bei allen, Kindern spielen psychische Ursachen mit eine Rolle, dass Übergewicht entsteht. Bei anderen Kindern wiederum entstehen aufgrund des Übergewichts und der damit verbundenen sozialen Nachteile - etwa beim Fußball immer als Letzter gewählt zu werden - Selbstwertprobleme.

Meistens vermischen sich Ursache und Wirkung. Essen ist oft eine Ersatzbefriedigung - das ist keine neue Erkenntnis. In Kombination mit Bewegungsmangel kommt es dann zu Übergewicht. Dicke Kinder bewegen sich dann meist noch weniger, das Gewicht steigt weiter - ein Kreislauf.

Belfor: Ich arbeite häufig mit adipösen Kindern, die ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl haben. Kinder brauchen Bestätigung, man muss ihnen von Geburt an vermitteln: Du bist mein Prinz, meine Prinzessin, ich liebe dich, genauso wie du bist. Das gilt auch beim Abnehmen: Manche Kinder haben schon monatelang versucht, selbst abzunehmen.

Wenn sie aber ständig nur hören, dass sie zu fett und zu faul sind, klappt das nicht. Sie brauchen positive Botschaften: Du fühlst dich nicht wohl in deinem Körper? O.k., ich helfe dir, das zu verändern.

STANDARD: Wie helfen Sie den Kindern, ihr Gewicht loszuwerden?

Belfor: Man muss es schaffen, den Kindern zu vermitteln, dass Bewegung Spaß macht. Das ist bei übergewichtigen Kindern nicht leicht: Sie werden meist schnell müde, fühlen sich unwohl in ihrem Körper, schämen sich oft. Sie brauchen also jemanden, der sie beim Arm nimmt und sagt: Ich gehe gemeinsam mit dir diesen Weg.

Und wie alle Kinder, wollen auch übergewichtige Kinder Spaß haben: Ich lasse sie auf Boxkissen über ein imaginäres Meer springen, in dem Piranhas und Haie warten, ich arbeite mit Power-Musik und mit Tanzvideos, die Kinder mögen. Die Gruppe hat hier einen unglaublich positiven Effekt: Einerseits sehen die Kinder, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind, anderseits motivieren sie sich gegenseitig. Es ist immer wieder schön zu sehen, wenn plötzlich wieder der Kampfgeist in den Kindern erwacht.

Kral: Kinder erreicht man ganz sicher nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass sie davon profitieren können, wenn sie ihre Lebensgewohnheiten verändern. Unser Team in Rodaun besteht aus Ernährungsberatern und Psychologen.

Unsere Betreuung ist dabei langfristig ausgerichtet, man sollte das Projekt "Gewichtsreduktion" schon mindestens auf ein Jahr ansetzen. Zum einen geht es bei uns konkret um das Wissen um die Ernährung: Was nehme ich überhaupt zu mir, wenn ich eine ganze Portion Pommes esse? Als Psychologe versuche ich gemeinsam mit den Kindern herauszufinden, wofür das übermäßige Essen steht.

Wenn man dann erkennt, dass ein Kind in einer bestimmten Situation immer zur Tafel Schokolade greift, kann man gemeinsam nach Alternativen suchen. Vielleicht reicht es ja manchmal anstatt der 200-Gramm-Tafel nur ein Stück zu essen, vielleicht lässt sich die Lust auf Süßes auch einmal mit Trockenobst befriedigen.

STANDARD: Kritiker von Ernährungsprogrammen merken an, das ständige Gerede von Body-Mass-Index und Kalorien würde unsere Kinder noch weiter von einem natürlichen Essverhalten entfernen.

Kral: Der Body-Mass-Index ist eine relativ einfache und schnelle Methode, um das Ausmaß des Übergewichts festzustellen. Die Kalorienanzahl auf der Verpackung eines Lebensmittels kann ein grober Anhaltspunkt sein, eine Orientierungshilfe. Aber natürlich darf es nicht das Ziel der Unterstützung sein, dass sich die jungen Patienten auf diese Parameter fixieren.

Vielmehr geht es darum, dass die Kinder wieder ein besseres Gespür für ihren Körper entwickeln. Stark übergewichtige Kinder können oft gar nicht mehr sagen, wie sich ihr Körper anfühlt. Deshalb frage ich die Kinder, bevor sie auf die Waage steigen immer: Glaubst du, du hast abgenommen? Zwickt die Hose weniger?

Belfor: Diese extreme Kalorienzählerei, die vor einigen Jahren stark in Mode war, ist heute zum Glück großteils vorbei. Es kann ja nicht darum gehen, dass alle Kinder pro Tag dieselbe Kalorienzahl zu sich nehmen, oder einen Body-Mass-Index von einem bestimmten Wert erreichen müssen.

Verbote und Gebote bringen in Bezug auf das Ernährungsverhalten gar nichts. Vielmehr geht es darum, den Kindern zu vermitteln, dass Essen etwas sehr Sinnliches und Schönes ist. Zum Beispiel eine richtig reife Mango zu essen ist ein unbeschreiblicher Genuss.

Am Sonntag gemeinsam mit der Familie zu essen, vorher den Tisch schön zu decken, das sind Erfahrungen, die Kindern beim richtigen Umgang mit Essen helfen.

STANDARD: Den Kampf gegen Übergewicht hat sich auch die EU auf ihre Fahnen geheftet. Wird Ihrer Meinung nach von der öffentlichen Seite genug für Kinder mit Übergewicht getan?

Kral: Untersuchungen zeigen, dass übergewichtige Kinder häufig aus sozial schwachen Familien kommen. Und diese Familien können sich viele Programme nicht leisten. Leider fühlen sich die Krankenkassen hier nicht zuständig. Die Kosten für die Teilnahme an Gewichtsreduktions-Programmen werden nur übernommen, wenn eine Diagnose für eine psychische Erkrankung vorliegt.

Ich bin aber überzeugt, dass sich eine Kostenübernahme angesichts der häufigen Folgeerkrankungen von Übergewicht durchaus bezahlt machen würde. Schließlich wissen wir aus mehreren Studien, dass aus adipösen Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit adipöse Erwachsene werden. Auch über die Schule könnte man im Kampf gegen Übergewicht mehr tun, als dies heute geschieht. Denn dort würde man alle erreichen, auch die Kinder aus sozial benachteiligten Familien.

Die Entwicklung geht hier leider in die falsche Richtung. Wenn Turnstunden gekürzt werden, dann ist das absolut das falsche Signal. Auch die Ernährung in den Schulkantinen ist aus gesundheitlicher Sicht heute oft alles andere als günstig.

STANDARD: Die Aufklärung über einen gesunden Lebensstil läuft seit Jahren. Die Erfolge sind mäßig. Läuft die ganze Aufklärung eigentlich ins Leere?

Kral: Wissen allein, überhaupt wenn es abstrakt ist, verändert noch nichts. Ich finde daher zum Beispiel auch diese Sendungen, die uns vor Augen führen, was wir so essen - also welche Unmenge an Zucker wir zu uns nehmen, wenn wir einen Monat lang jeden Tag eine Flasche Cola trinken - gar nicht so schlecht.

Natürlich darf man den Menschen nicht vermitteln, dass man ihnen jetzt auch noch den letzten Spaß - nämlich das Essen - verderben will. Wir müssen immer versuchen zu vermitteln, dass es hier um einen Gewinn an Lebensqualität geht.

Belfor: Ich würde mir sogar noch mehr Aufklärung und Kampagnen wünschen. Die Leute wissen inzwischen, dass Obst gesünder ist als Schokolade, aber sie vergessen es gern. Vielleicht sollte man in den Supermärkten einfach Plakate aufhängen, mit der Frage: Haben Sie heute schon etwas Gesundes gekauft?

Etwas, was wir noch vermehrt vermitteln müssen, ist auch, dass wir rechtzeitig gegensteuern müssen. Wenn die Kinder erst einmal extrem übergewichtig sind, also zwanzig, dreißig und mehr Kilo zu viel wiegen, dann wird es sehr schwierig für sie abzunehmen. Sie müssen dann eine ungeheure Energie aufbringen. Durch rechtzeitige Gegenmaßnahmen könnte man diesen Kindern einiges ersparen. (Sabina Auckenthaler, MEDSTANDARD, 10.03.2008)