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Bildgebende Verfahren spielen in der Medizin eine immer größere Rolle. Sie verlangen vor allem Mathematik, denn alle Messungen müssen durch raffinierte Methoden und computergestützte Algorithmen bearbeitet werden.

Foto: APA/EPA/ROLEX DELA PENA
Wer Wissenschaft treibt, möchte verstehen' was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber dazu muss man ins Innere der Dinge hineinschauen können - und das zerstört oft gerade das, was man untersuchen möchte. Charlie Chaplin hat die Problematik in einer berühmten Filmszene sehr eindringlich dargestellt: Da überprüft er eine Uhr, indem er sie, mit unbeirrbarer Konsequenz, in ihre Bestandteile zerlegt. Zum Schluss stellt er befriedigt fest, dass eigentlich alles in Ordnung war: Aber vor ihm auf dem Tisch liegt nur mehr ein Haufen von Schräubchen und Zahnrädern.

Um etwas über das Innenleben sagen zu können, ohne es dabei zu zerstören, haben die Mathematiker eine Reihe von Verfahren entwickelt, die zum Fachgebiet der "inversen Probleme" gehören. Hier geht es nicht darum, aus einer Ursache die Wirkung herzuleiten, sondern umgekehrt von der Wirkung auf die Ursache rückzuschließen.

Ein Prototyp dieser Fragestellung geht auf Archimedes zurück. Ein König hatte eine Krone zum Geschenk erhalten und wollte nun wissen, ob sie aus purem Gold sei, natürlich ohne dabei die Krone zu beschädigen. Archimedes konnte es berechnen, sobald er Gewicht und Volumen der Krone gemessen hatte.

Die gegenwärtigen inversen Probleme sind unvergleichlich viel komplizierter. Sie spielen in zahlreichen industriellen Anwendungen eine Rolle (zum Beispiel möchte man wissen, was im Inneren eines Hochofens vor sich geht oder wo Reserven von Erdöl lagern).

Eine besondere Rolle spielen die Anwendungen in der Biologie. Was geht im Gehirn oder in der Leber vor sich? Das möchte man herausfinden, ohne das Organ zu zerstören, durch Messungen, die möglichst wenig beschädigen, und durch Verfahren, die "nichtinvasiv" sind.

Hier spielen die sogenannten bildgebenden Verfahren eine immer wichtigere Rolle. Sie verlangen aufwändige Geräte wie zum Beispiel die Sieben-Tesla-Magnetröhren, die kürzlich im AKH in Betrieb genommen wurden. Vor allem aber verlangen sie Mathematik: Denn alle Messungen müssen durch höchst raffinierte Methoden und computergestützte Algorithmen bearbeitet werden, um daraus auf die Vorgänge im Körperinneren der Patienten rückschließen zu können.

Urahn der Verfahren

Der Urahn all dieser Verfahren ist die Tomografie, die vor neunzig Jahren von einem österreichischen Mathematiker namens Johann Radon (1887-1956) begründet wurde. Radon ging von der Tatsache aus, dass Röntgenstrahlen durch verschiedene Gewebetypen verschieden stark absorbiert werden. Er fragte sich, ob man umgekehrt auf die exakte Lage der verschiedenen Gewebeteile schließen kann, wenn man weiß, wie stark jeder Strahl absorbiert wird. Und er wies nach, dass man es kann: Der dazu notwendige Rechengang wird heute nach ihrem Entdecker Radon-Transformation genannt.

Radon gehörte zu den wichtigsten Mathematikern in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und sein Name taucht in vielen Zusammenhängen auf. Die Radon-Maße sind ein fundamentaler Begriff in der Theorie der Integrale. Die Radon-Nikodym-Ableitung ist ein wichtiges Hilfsmittel der Finanzwissenschaft. Ein Satz von Radon spielt eine Hauptrolle in der Geometrie konvexer Körper, und die Radonzahlen sagen etwas Grundsätzliches über Kugeloberflächen in Räumen von beliebig hoher Dimension.

Radon gehört zu einer Generation brillanter Wiener Mathematiker, die Wissenschaftsgeschichte schrieben. Nach außen hin war er bescheiden, gesellig und unkompliziert, gar nicht dem Klischee des verrückten Professors entsprechend. Radon hätte sich wohl als "reinen Mathematiker" bezeichnet und wäre über Anwendungen seiner Sätze in der klinischen Forschung oder im Handel mit Derivaten höchst überrascht gewesen. Dazu kam es ja auch erst viele Jahrzehnte später.

Heute ist das Linzer Institute for Computational and Applied Mathematics, das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betrieben wird, nach Johann Radon benannt, und eine Vortragsreihe von "Radon-Lectures" wendet sich an ein allgemein interessiertes Publikum, um die aktuellen Fortschritte der Mathematik und ihre Bedeutung für unsere Gesellschaft darzulegen.

Der nächste Vortragende, Frank Natterer aus Münster, gilt zu Recht heute als wissenschaftlicher Erbe Radons. Er spricht heute, am 5. 3., in der Akademie der Wissenschaften (Festsaal, 1010 Wien, Dr.-Ignaz-Seipel-Platz 2, 18.15 Uhr, Eintritt frei) zum Thema.

Denn mit der Radon-Transformation ist die Sache nicht abgetan. Diese Operation benötigt Absorptionsmessungen an unendlich vielen Strahlen, um die Innenwelt des durchleuchteten Körpers nachzubauen.

Man steht in der Praxis also vor der Aufgabe, aus nur endlich vielen Messungen eine angenäherte Rekonstruktion zu gewinnen. Und hier spießt es sich, denn diese Aufgabe ist, wie die Mathematiker sagen, "schlecht gestellt": Schon kleinste Änderungen in den Messdaten können zu völlig verschiedenen Rekonstruktionen führen. Die Aufgabe, hier gröbere Fehler zu vermeiden, stellt eine der wichtigsten Herausforderungen auf dem Gebiet der inversen Probleme dar. (Karl Sigmund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5. 3. 2008)