Irene Ranzmaier: Germanistik war auch Wissenschaft der "deutschen Menschen".

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UniStandard: Wie verhielt sich die Germanistik zum Nationalsozialismus?

Irene Ranzmaier: Die Nähe zum Nationalsozialismus entstand aus der sich nach dem Ersten Weltkrieg formierenden "Deutschkundebewegung", welche die Germanistik nicht allein als Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur, sondern vom "deutschen Menschen" fasste. Die Mehrzahl der Wiener Germanisten orientierte sich an dieser Strömung.

UniStandard: Wie wirkte sich das auf die Lehre aus?

Ranzmaier: NS-Ideologeme haben zum Teil schon Eingang in die Germanistik gefunden, bevor sie zu Bestandteilen einer NS-Ideologie wurden. Der im Rahmen der NS-Problematik bekannteste Wiener Professor, Josef Nadler, meinte nicht den Nationalsozialismus zu fördern, sondern dass die geschichtliche Entwicklung zum Nationalsozialismus hin seine literaturgeschichtlichen Forschungen bestätige. Umgekehrt lassen sich in den Publikationen des NS-Sympathisanten Hermann Menhardt keine NS-Tendenzen feststellen. Sie beruhen auf streng philologischer Methodik.

UniStandard: Wie veränderte sich die germanistische Forschung während der NS-Zeit?

Ranzmaier: Die Grundlagen der Forschung blieben weitgehend dieselben. Anpassungen an die politische Lage fanden vor allem auf rhetorischer Ebene statt, wo vermehrt NS-Termini wie "Rasse", "deutscher Boden"oder"deutsches Blut" verwendet wurden. Oft beschränkte sich dies auf Vor- und Nachworte von Büchern, während sich am Inhalt nichts änderte. Es gibt letztlich keine "NS-Germanistik". Es gibt nur "Germanistik während der NS-Zeit", die sich weniger von jener davor – und auch der Zeit danach – unterscheidet als gerne angenommen wird.

UniStandard: Lässt sich die steigende Studentenzahl von 500 um 1900, auf 1000 um 1933 auf ein vermehrtes ideologisches Interesse zurückführen?

Ranzmaier: Die Germanistik hatte durch die "Deutschkundebewegung" ein starkes Orientierungsangebot an die Studenten und ein hohes Prestige. Tatsache ist, dass die Anzahl an NS-Sympathisanten unter den Studenten höher war als unter den Lehrenden.

UniStandard: Wie viele jüdische Professoren gab es an der Germanistik 1938 in Wien?

Ranzmaier: Max Hermann Jellinek und Robert Franz Arnold waren bereits 1934 aus Einsparungsgründen in den Ruhestand versetzt worden. Es ist durchaus als Indiz für den schon zu dieser Zeit herrschenden Antisemitismus zu werten, dass gerade die beiden jüdischen Professoren davon betroffen waren. Privatdozent Stefan Hock hatte zum Zeitpunkt des Verlusts der Lehrbefugnis 1938 bereits mehrere Semester lang keine Lehrveranstaltungen mehr abgehalten. Er hielt sich seit Mitte der 1930er in London auf, wohin er emigrierte.

UniStandard: Wurden noch weitere Professoren entlassen?

Ranzmaier: Insgesamt wurden von 14 Professoren und Dozenten der Germanistik vier ihrer Lehrbefugnis enthoben. Neben Hock und Jellinek betraf dies Eduard Castle und Rudolf Kriß. Proteste gegen diese „Säuberungen“ am Institut gab es keine.

UniStandard: Wie sah es in der Germanistik 1945 aus?

Ranzmaier: Mehr als die Hälfte der verbleibenden Germanisten sympathisierte schon vor 1938 mit dem Nationalsozialismus und gehörte teilweise illegal der NSDAP an. Sie wurden 1945 alle entlassen und kehrten nicht mehr an die Universität zurück. Von den Lehrenden, die sich mit dem NS-Regime arrangiert hatten, wurden zwei „zur Aufrechterhaltung der Lehre“ belassen. Generell war es sehr schwierig, unbelastete Germanisten für Berufungen zu finden. (Julia Wurm/DER STANDARD Printausgabe, 4. März 2008)