Die Kaste der Unberührbaren im Norden Indiens etwa. Viele von ihnen müssen wie Leibeigene in den Reisfeldern von Großgrundbesitzern schuften, können sich aber nicht einmal den Reis leisten, den sie selbst ernten. Sie müssen Ratten essen, die sie bei der Arbeit auf den Feldern erlegen. Zuerst wird das Fell abgesengt, dann wird das Tier auf offenem Feuer gegrillt. Das alles zeigt Stefan Gates, bevor er in die Ratte beißt. Sie schmecke überraschend zart, meint er, und alles andere als eklig und sei (wie so viele exotische Fleischsorten, Anm.) am ehesten mit Huhn zu vergleichen.
Koch-TV und politischer Reportage
Ab dann aber geht es kaum noch ums Essen, sondern um die obszönen wirtschaftlichen Vorteile, die manche aus der Aufrechterhaltung des Kastensystems in Indien ziehen. Diese einzigartige Verquickung von Koch-TV und politischer Reportage ist wohl auch der Grund, warum Gates soeben zur Berlinale eingeladen war - im Rahmen der Serie "Kulinarisches Kino". Das "Weltjournal" des ORF brachte bereits im Vorjahr die erste Staffel von "Cooking in the Danger Zone" (leider nicht in Zweikanalton), diesen Sommer ist die nächste eingeplant. Gates' Konzept, in den entlegensten Winkeln des Globus, bei bedrohten Völkern, Dschungelrebellen und zwischendurch auch wieder im Dickicht der Städte auf politisch-kulinarische Weltreise zu gehen, ist hochaktuelles, modernes Fernsehen, das den Zuschauer geschickt mit Sensationslust kitzelt, um ihm dann relevante Inhalte vorzusetzen.
Ein kulinarisches Abenteuer dieser Art kann wohl nur in England beginnen. Hier gibt es noch dieses Männlichkeitsideal eines unabhängigen Lebens am Rande der Zivilisation, und es gibt die öffentlich-rechtliche BBC, die zwar immer wieder Kritik einstecken muss, dabei aber doch einen untrüglichen Sinn für gute und wagemutige Fernsehformate an den Tag legt. Gerade auch bei Sendungen, die irgendwie unter die Rubrik "gute Küche" fallen. Stefan Gates fällt vermutlich im allerweitesten Sinn unter diese Kategorie. Er geht dorthin, wo es wehtut - zuerst dem Auge, dann dem Gaumen, manchmal dem ganzen Körper. In der Arktis assistiert er bei der Walross- und Belugawaljagd der Inuit; im Südseearchipel Tonga besucht er "die fetteste Nation der Welt" und testet ihren Speiseplan; im Goldenen Dreieck Burmas trifft er auf Rebellen gegen die Militärjunta, die ihre Ernährung nur aus dem bestreiten können, was sie im Dschungel vorfinden. Eine der packendsten Episoden spielt im Umland Tschernobyls, wo Gates das Essen der Bevölkerung auf Radioaktivität testet - und völlig jenseitige Belastungen feststellt. Dass er dennoch mit am Tisch Platz nimmt, ist für einen, dem das Schicksal der von ihm Gefilmten ganz augenscheinlich zu Herzen geht, selbstverständlich - natürlich auch, weil der danach durchgeführte Radioaktivitätstest im Labor schlicht sehr gutes Fernsehen ist.
Emotionale und moralische Bedeutung
Ganz uneitel schafft Gates es, seinen Spleens eine politische, ja eine existenzielle Ebene zu geben. Er interessiert sich für das Essen in seiner "emotionalen und moralischen Bedeutung für uns sterbliche Menschen". Von dieser Bedeutung ist im Supermarkt nicht so viel zu verspüren, deswegen macht Gates es sich zu seiner Aufgabe, zu den Ursprüngen einzelner Lebensmittel zu reisen. "Cooking in the Danger Zone" kümmert sich dabei nicht um Genregrenzen: politische Reportage, persönliches Survivalexperiment und Kochsendung gehen ineinander über. Der "Gastronaut" exponiert sich, er wagt sich in Gefahrenzonen wie Afghanistan und zu den Zapatisten im Süden Mexikos.