Adelheid Dahimène: "Wir hoffen, dass der Zug doch eines Tages irgendwo anhält. Dann sind wir zwar unerwünschte Bettler auf fremden Straßen, aber alleine die abweisende Handbewegung der Menschen vor unseren Augen wird uns mit Glück erfüllen."

Foto: Heribert Corn
Doch inzwischen ist die Welt verschwunden, der ich angehöre.

Woher es kommt, dass auf einmal alles grau ist hinter den Fenstern, alles grau mit ein paar weißen Stellen, wo es gerade noch grün hereingeblinkt hat von Bäumen und Wiesen, grün auf blauem Grund. Woher es kommt, dass die spitzen Enden von Nägeln und Stahlklammern aus der grauen Fläche ragen, auch Muttern von Schrauben sehe ich, und wahrscheinlich ist das Leim oder Klebstoff, der zwischendrin quadratische und rechteckige Teile als ein Gelbweißes ausgliedert.

Das Geräusch des Zuges hat sich mit dem Wenden des Bildes vor meinen Augen um ein Dreifaches verstärkt, ich befinde mich vielleicht in einem Tunnel oder einer Gebirgsschlucht, obwohl der Weg, den ich lange kenne, sich nur über Ebenen hinzieht. Wir befinden uns hier im Flachland, trotz allem. An der letzten Station sind die meisten Menschen ausgestiegen, komisch, weil es nur ein kleiner Bahnhof war, nichts Bedeutendes auf dieser Verbindungsstrecke zwischen den größeren Städten. Ich schaue auf meine Uhr, was mehr Reflex ist als Absicht, die Zeit zu überprüfen. Das Licht im Waggon scheint sehr schwach, mag sein, dass ich deshalb nicht sehe, wie hinter dem runden Glas die Zeiger auf dem Ziffernblatt weiterticken. Ich kann keine genaue Zeit feststellen.

Der Waggon ist beinahe leer, nur zwei Reihen vor mir lehnt ein älterer Mann im Sitz und bewegt bei geschlossenen Augen leise die Lippen. Auf der linken Seite des Mittelganges liest ein Schulkind in einem Comic-Heft. Beim Umblättern lacht es manchmal und das klingt wie der bimmelnde Schlag einer kleinen Glocke. Der Schaffner müsste jetzt auch bald kommen, meine Fahrkarte klemmt noch ungestempelt in der Geldtasche und ich sitze sicher schon über eine Stunde im Zug. Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, sind wir in knapp zehn Minuten am Zielbahnhof. Draußen verändert sich das Bild weiterhin nicht. Manchmal tauchen an der grauen Wandgeraden Drahtseile auf, die an den Enden zu Knoten gedreht Knäuel bilden und die Nagelenden sind an manchen Stellen gehäuft, dann wieder blinken nur einzelne Spitzen wie silbrige Setzlinge aus dem Gemäuer. Ist es das überhaupt, eine Mauer? Ich mache das Fenster auf, und ein Geruch von frischer Dispersionsfarbe steigt mir in die Nase. Vom Schleifen der Räder an den Schienen belegen sich meine Ohren, aber es ist kein Fahrtwind zu spüren. Genauso gut könnte der Zug stillstehen oder er rast mit solcher Geschwindigkeit, dass er die Bewegung längst überholt hat.

Diese Strecke bin ich oft gefahren. Hunderte Male. Ich muss mich beim Einsteigen geirrt haben. Vielleicht sollte ich anrufen und sagen, dass ich zu spät komme. Mein Handy zeigt eine neue Nachricht an. Es ist ein SMS von meinem Bruder, und er fragt, was mit mir los ist und warum ich seit Tagen nicht auffindbar bin und ob ich krank sei. Es gibt weder Datum noch Uhrzeit zu seiner Meldung. Aber wir haben doch vor drei Stunden noch telefoniert, er wollte mich am Bahnhof abholen und dann mit mir zum Begräbnis unserer Mutter gehen.

Mein Herz fängt an, langsamer zu schlagen. Langsamer und dennoch mit kleinen Unebenheiten im Rhythmus. Niemand kann mir etwas vorwerfen. Ich habe um elf Uhr dreißig den Zug bestiegen mit voraussehbar pünktlicher Ankunft um ein Uhr, doch inzwischen ist die Welt verschwunden, der ich angehöre. Als ich aufstehe, um meine Uhr näher ans Licht zu halten, tun mir alle Knochen weh. Auch mein Rücken beugt sich in aufrechter Haltung nach vorne, und fast sacke ich in mich zusammen.

Die Zeiger rühren sich nicht vom Fleck und fixieren einen schon vergangenen Zeitpunkt: Zwölf Uhr siebzehn. Draußen alles unverändert, und der Mann zwei Reihen vor mir in einem sehr abgemagerten Zustand mit weit offenen Augen. Ich wage kaum, einen Blick auf das Schulkind zu werfen. Es sitzt in zerrissenen Kleidern da, die Nähte der Hose sind aufgeplatzt, und darunter schwillt grünes Fleisch hervor. Eine Frage, sage ich mit einem Akzent, der nach Karies klingt: Wohin fährst du eigentlich? Der junge Mann schaut mich glasig an, seine Augen sind ein Spiegel der grauen Fassaden hinter den Fenstern, und er sagt unentschieden stimmbrüchig: Ich fahre nach Hause. Das dauert heute schon ewig. Kommt es Ihnen nicht auch so vor?

In jedem Zug gibt es einen Lokführer. Das wäre ja gelacht. Meine Beine können den Schritt nicht halten, obwohl der Boden kaum schwankt. Ich bewege mich. Ich bewege mich vorwärts an den vielen seitlichen Nagelspitzen entlang, die aussehen wie Platinen einer Computerfestplatte. Ich bin eingekeiltes Treibholz im Packeis, ich bin inzwischen ein alter Mann, noch älter als der in meinem Waggon, der vor kurzem gestorben ist und dessen Begräbnis infrage steht, denn ich weiß nicht, wo und wie sein Begräbnis sein wird.

Nicht aller Tage Abend

Die Türen gehen lautlos auf und leise hinter mir wieder zu. Die Türen gehen schwer auf und fallen hinter mir schwer wieder zu. Meine Schritte haben wenig Gewicht, ich torkle durch die leeren Waggons wie ein besoffener Blinder. Aber schon wird es heller da draußen, schon wechselt das Grau mit dem Grün, und sind da nicht in kurzer Entfernung auch Menschen zu sehen auf einem Bahnsteig, der im Sonnenschein daliegt wie eine Insel der Malediven, und ich keuche, ich stehe am Fenster und denke mir, dass es endlich geschafft ist und alles dazwischen ein Alptraum gewesen und dass gleich der Zug bremst und wir aussteigen können, egal an welchem Ort und in welcher Lage, Hauptsache der Tote und ich und das wachsende Schulkind sind im Tageslicht aufgehoben und erlöst von den nagelzerfurchten Wänden.

Mein Handgepäck hebe ich aus dem Netz, den leblosen Alten löse ich aus seinem Sitz, dem jungen Mann gebe ich einen Wink aufzustehen und schnell in das wartende Grüne da draußen zu gehen, bevor wir alle noch einmal an Rückseiten verloren sind. Nicht bremst der Zug, kein Eisen an seinen Rädern, das ihn aufhalten könnte, und ich höre im Anwachsen des Tempos, wie Chris Lohner mit ihrer Fernsehstimme durch den Bahnsteiglautsprecher sagt: Gleis drei: Zug: fährt: durch. Und ich lasse den Toten in den Sesselplüsch fallen, und ich sage zum Schüler, das ist doch alles nicht wahr, und für mich selbst nehme ich den Schlag meines Herzens wieder unter die Achsel und will jetzt erst recht den verdammten Zugführer sprechen.

Die Türen wieder leise und abwechselnd laut vor mir, hinter mir auf und zu, ein Waggon um den anderen mit keinem Menschen darin, der irgendwo hinfährt an einen sicheren Platz. Die Türen lautleise und wieder eine Flucht leerer Sitze, das Klo am Gang frei mit grünem Licht und daneben das vernagelte Grau durch den Glasmixer der Fenster. Nach Kilometern holt ein Ton aus meinem Handy mich ein. Neue Nachricht. Ich tippe sie an, es ist mein Büro, das mir die Stelle kündigt. Seit Monaten unmöglich Sie zu erreichen, kein Lebenszeichen. Blablaba, Konsequenzen, verabschieden wir uns von Ihnen.

Nicht aller Tage Abend. Ich versuche zu denken. Mein Gehirn ist langsam. Es fragt zuerst nach dem Namen, der Adresse und der Sozialversicherungsnummer. Im Verhältnis zur vorgegebenen Geschwindigkeit verzögern sich auch die inneren Abläufe. Ich erinnere noch Apfelbäume und Wippschaukeln. Auch die Haut einer blühenden Frau. Obwohl längst vergangen. An meinem Kreuz nagen schon Würmer, die Haut ist von Stahlstichen mürbe.

Keiner steigt ein

Das Land läuft ab wie hinter Bühnen auf dem Schnürboden, rein mechanische Vorgänge, die mir ans Fleisch wollen. Der längst gestorbene Mann vor mir verwest im staubigen Muster des Stoffes auf den Reisebänken. Das Schulkind im Alter eines Familienvaters lallt Schlaflieder vor sich hin. Und mich plagt das Rheuma. Hinter den atembeschlagenen Scheiben ist Bleigrau hingeschüttet ohne Nuancen, unterbrochen von den gelbweißen Flächen.

Mein Bruder schreibt, das Begräbnis war sehr berührend. Mir ist nicht klar, ob es sich dabei um mein eigenes handelt. Ich fahre auf der anderen Seite der Gegenwart dahin, und es gibt weder Hier noch Jetzt in diesen Bereichen. Auch einen Lokführer konnte ich nicht finden, selbst nicht, nachdem ich unendlich lang nur in die vordere Richtung des Zuges gegangen bin. In linearer Zeitrechnung könnten es Jahre sein. An das Grau hinter den Fenstern habe ich mich gewöhnt. Es erscheint mir sehr stimmig mit der Situation, in der ich mich befinde.

Niemand steigt ein, keiner steigt aus. Es gibt keine Haltestellen. Und wenn, dann fährt dieser Zug durch. Wir freuen uns über jedes Grün, das unerwartet hereinschneit, es lässt uns zwischendurch körperlos wie zum Kurzurlaub auf die andere Seite gelangen. Ich bin hier in einer Glaskugel, wenn sie geschüttelt wird, fallen Bleispäne auf mich herab. Der junge Mann neben mir befriedigt sich manchmal eigenhändig selbst, das ist nicht ungewöhnlich für sein Alter und die Einsamkeit, die ihn umgibt. Er nennt mich inzwischen Vater und ich ihn Sohn. Am Vormittag, also wenn wir glauben, dass Vormittag ist, spielen wir Schiffe-Versenken. Er gewinnt meistens, das lasse ich zu. Es erreichen mich immer weniger Nachrichten aus eurer Welt, weil ich auch nicht antworten kann. Meine Freundin war zuerst böse auf mich, nachher hat sie getrauert, später sind andere Arme für sie da gewesen, und sie hat mich beiseite geschoben wie einen leeren Kleiderständer.

Wir hoffen, dass der Zug doch eines Tages irgendwo anhält. Dann sind wir zwar unerwünschte Bettler auf fremden Straßen, aber alleine die abweisende Handbewegung der Menschen vor unseren Augen wird uns mit Glück erfüllen. Hinter den Fenstern ist es schön grau, und die Nägel dringen weiter in unsere Körper vor. Ich tröste mich damit, dass schließlich doch noch Wind aufkommen könnte, der die verbogene Streckenschleife wieder ganz nach außen kehrt, mitten in die vorhersehbare Welt. Bis dorthin sammle ich meine ausfallenden Zähne in der Brillenschachtel und unterrichte meinen Sohn in mathematischer Logik. Die Beine sind mir längst auf immer eingeschlafen. (Adelheid Dahimène, ALBUM/DER STANDARD, 16./17.02.2008)