Cover: Hoffmann und Campe
Raymond Radiguet, der mit 15 Jahren in die Pariser Szene eintauchte, war befreundet mit Picasso, Max Jacob und Jean Cocteau. Als er im Dezember 1923 an Typhus starb, gerade einmal 20Jahre alt, entwarf Coco Chanel seinen weißen Totenanzug. All diese biografischen Mythen überschatteten lange das schmale Werk Radiguets. Nun ist sein Hauptwerk in neuer, sehr prägnanter Übersetzung wieder greifbar. Und dieses Buch, das 1921 abgeschlossen wurde und im Sommer 1923 erschien, erweist sich als ein Roman, der die Zeiten erstaunlich, ja phänomenal gut überstanden hat. Die ein Jahr währende Liebe eines 16-Jährigen zu Marthe, einer vier Jahre älteren Frau, die, es ist das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges, mit einem Soldaten im Feld verheiratet ist, erweist sich als alles andere denn harmlos. Das Skandalöse dieses Buches, das lange angefeindet wurde, liegt in der Ausklammerung aller moralischen Vorstellungen. Der Soldat ist dümmlich, konventionell, und es geschieht ihm aus Sicht des jungen Ich-Erzählers ganz recht, dass Marthe nicht nur das Alphabet körperlicher Liebe mit ihm, dem minderjährigen Geliebten, durchdekliniert, ohne etwas auf Klatsch und soziale Ächtung zu geben. Sondern es ist ebenso natürlich, sich zu wünschen, der Soldat möge umkommen. Das Erstaunliche Radiguets ist die komplexe Psychologie der Charaktere. Der Erzähler ist einfühlsam, dann ganz kindischer Tyrann, im einen Moment sympathisch, im nächsten ein Monster, einmal hormongesteuert, dann wieder berechnend. Ein Bravourstück. (Alexander Kluy, ALBUM/DER STANDARD, 16./17.02.2008)