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Die Grenze zwischen sanftem Druck und Zwang ist fließend. In der zweiten Generation scheinen alte Strukturen aufzubrechen

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"Ich habe Menschen erlebt, die anfänglich modern gekleidet waren, sich aber nach einer gewissen Zeit in Österreich verändert haben": Metin Okyay

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Auch wenn das Phänomen oft hochgespielt und instrumentalisiert wird – erfunden ist es nicht: Gewalt- und Opferschutzeinrichtungen, MigrationsberaterInnen und die Polizei haben es immer wieder mit eingefädelten Hochzeiten oder gar Fällen von Ehenötigung zu tun. Der Grazer Integrationsexperte Okyay erklärt im Interview mit Gerlinde Pölslser, was Eltern dazu veranlasst, ihren Kindern Ehen aufzuzwingen, was das für Mädchen und was für Burschen bedeutet und wann die Situation in die Gewalt kippt. Okyay spricht hauptsächlich für die türkische Community, die zu den größten Einwanderergruppen Österreichs zählt.

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derStandard.at: Sie hatten mehrmals mit arrangierten und Zwangsehen zu tun, als Sie für das Grazer Jugendamt gedolmetscht haben. Für wie groß halten Sie das Problem in Österreich?

Metin Okyay: Unter Zuwanderern aus der Türkei halte ich es für relativ weit verbreitet. Dies deshalb, da hier ein großer Teil der Zuwanderer aus ländlichen Gebieten stammt – und unter dieser Gruppe gibt es die Tradition des Arrangierens von Ehe. Vor allem ist es aber ein Problem der ersten Generation der Eltern, in der zweiten tritt es auch auf, aber bereits in abgeschwächter Form.

derStandard.at: Worin sehen Sie die Hauptursachen?

Okyay: Die Eltern, die Zwangsehen verordnen, wollen, dass die gewohnte Praxis fortgesetzt wird. Heiratet der Sohn ein Mädchen der Herkunftskultur, das sie gut kennen, dann können sie sicher sein, dass es sie achten, im Haushalt unterstützen und einmal pflegen wird. Oft werden dann die EhepartnerInnen in der Verwandtschaft gesucht – denen muss man nichts erklären und sie müssen nicht erst in die Familie eingeführt werden. Auch denken die Eltern, dass ihr Sohn mit einer solchen Frau glücklich wird.

derStandard.at: Und die Eltern des Mädchens – was wollen die?

Okyay: Die gehen auch davon aus: Wenn das Mädchen in einer guten Familie untergebracht ist, die wir kennen, dann wird diese nichts tun, was der Tochter schadet. Sind die Eheleute verwandt, kann der Mann sie außerdem nicht einfach verstoßen – da würde sich ja die ganze Verwandtschaft wehren. In so einem Fall scheint den Eltern eine Scheidung fast ausgeschlossen.

derStandard.at: Wo liegt denn die Grenze zwischen arrangierter und Zwangsehe – oder gibt es gar keine klare Trennlinie?

Okyay: In seltenen Fällen wird mit roher Gewalt und Einsperren gearbeitet, viel häufiger aber mit Gewissen und Familienehre. Die Eltern sagen: "Willst du nicht, dass wir glücklich werden?", "Wir haben es auch so gemacht, alle machen es so", oder gar: "Wenn du es nicht machst, bist du nicht mehr unsere Tochter". Sich da zu verweigern, ist sehr schwierig.

derStandard.at: Wobei Jugendliche, die schon hier aufgewachsen sind, ja zunehmend Widerstand leisten.

Okyay: Ja, da ändert sich einiges. Ich kenne Jugendliche, die nicht mehr mit der Familie in die Türkei fahren, weil sie dort dauernd angesprochen werden: "Wann wirst du heiraten?", "Wir haben ein nettes Mädchen für dich". Wobei Mädchen ja schon in jüngerem Alter betroffen sind und schwerer sagen können, sie fahren einfach nicht mit – oft müssen sie einfach mitfahren.

derStandard.at: Von MigrantInnen und Leuten in der Integrationsarbeit ist von einer Re-Traditionalisierung unter ZuwanderInnen, besonders muslimischer Religion, zu hören, und dass dies Zwangs- und arrangierte Ehen wieder begünstige.

Okyay: Ja – Retraditionalisierung ist eine Tendenz, wenn Menschen die Integration schwer gemacht wird. Dann klammern sie sich an die Religion und agieren traditioneller als zu Hause. Ich habe Menschen erlebt, die anfänglich modern gekleidet waren, sich aber nach einer gewissen Zeit in Österreich verändert haben. Frauen, die vorher kein Kopftuch getragen haben, haben plötzlich damit angefangen. Das heißt nicht, dass sie sich nicht integrieren wollen. Sie versuchen es, aber wenn sie sehen, dass es schwierig ist, übernehmen viele ihre Rolle in der Community und machen, was von ihnen erwartet wird – das bringt ein Sicherheitsgefühl.

derStandard.at: Warum und wann kann das Arrangieren von Ehen in die Gewalt kippen?

Okyay: Wenn in einer Familie die traditionelle Lebensweise extrem wichtig ist, dann sehen die Leute manchmal keine andere Lösung mehr als Gewalt. Ich hatte mit einer Familie zu tun, die ihre Tochter wochenlang in einem Zimmer eingesperrt hat. Als ich sie mit den KollegInnen des Jugendamtes traf, haben alle die ganze Zeit geweint. Es handelt sich ja nicht nur um lauter Gewalttäter. Die haben einfach nicht mehr gewusst, was sie tun sollen, und es ist ihnen bewusst geworden, was sie getan haben.

derStandard.at: Was war passiert?

Okyay: Die Mama hatte für die Tochter einen Mann aus ihrer Verwandtschaft ausgesucht. Sie wollte eigentlich dessen Familie helfen, die in der Türkei lebte und arm war. Sie meinte: "Wir haben es hier geschafft, wenn du ihn nimmst, kann er hierher kommen und seiner Familie helfen. Das bringt doch allen etwas!" Die Tochter, 17, traf sich aber trotz Verboten mit ihrem österreichischen Freund. Um die Zeit bis zur Hochzeit zu überbrücken, haben sie sie eingesperrt, es kam auch zu Gewalttaten wie Ohrfeigen.

derStandard.at: Wie ist das ausgegangen?

Okyay: Die Eltern waren nicht wirklich umzustimmen, das Mädchen hat es aber mit Hilfe verschiedener Organisationen geschafft, den österreichischen Freund zu heiraten.

derStandard.at: Wie wirken sich eingefädelte Ehen für Mädchen aus und wie für Burschen?

Okyay: Heiratet ein hier aufgewachsener Junge ein Mädchen, das aus seinem Heimatland hierher kommt, verändert sich für ihn nicht viel. Er führt sein Leben weiter. Geht er aus, nimmt er seine Frau oft nicht mit, und lernt er ein Mädchen kennen, ist das auch okay. Ein Mädchen jedoch, das hier groß geworden ist, hat gesehen, dass auch ein anderes Rollenbild möglich ist. Wird sie mit einem Mann aus der Türkei verheiratet, dann hat dieser aber eher noch das Rollenverständnis ihrer Eltern. Das wird dann schwierig.

derStandard.at: Welche Maßnahmen würden Sie sich wünschen, um Zwangsehen ein Ende zu setzen?

Okyay: Man muss vor allem die Eltern erreichen. Oft tritt man mit diesen erst in Kontakt, wenn bereits ein Problem aufgetreten ist. Türkische Staatsangehörige sind in Österreich gut in Form von Vereinen organisiert, mit denen könnte man zusammenarbeiten. Neue Formen der Elternarbeit sollten sowohl die österreichische als auch die jeweilige Herkunftskultur thematisieren und im Vergleich Dinge sichtbar machen. Wobei ein solcher Prozess von Anerkennung und der Kommunikation auf Augenhöhe geprägt sein muss. Und schließlich muss man auch Institutionen wie das Jugendamt für interkulturelle Familienarbeit sensibilisieren. (Gerlinde Pölsler, derStandard.at, 15.2.2008)