Andrea Grill: Irgendwo muss man ja hin mit dem, was ich für ein Gefühl halte: Liebe. Womöglich ist es eine chronische Hormonstörung. Vielleicht ist die Liebe einfach unsere Erfindung. Eine höchst gelungene Erfindung freilich.

Foto: Heribert Corn
Einen halben Kilometer vor der Grenze wird die Straße zum Weg, und man kommt zu einem Schild, das in mehreren Sprachen, unter anderem Deutsch und Italienisch, ACHTUNG GRENZE! ankündigt. Weder hier noch innerhalb der nächsten zwanzig oder hundert Kilometer steht der Name des Landes geschrieben.

"Sie sind die erste Frau, die mich überrascht hat", sagt der Grenzbeamte hinter dem Schranken, den er vor meinem Auto heruntergelassen hat. Und er habe viele Frauen kennengelernt, fügt er mit unvermeidlichem Augenaufschlag hinzu. Zuerst siezt er mich, dann wechselt er plötzlich zum Du. Er meint die Überraschung, dass ich Albanisch spreche. "Oder bist du etwa doch von hier?", zweifelt er und betrachtet das Formular, in dem ich als Geburtsort Österreich eingetragen habe. Wir befinden uns in Hani Hoti, der Pforte von Montenegro nach Albanien.

Woher kannst du Albanisch? Es klingt, als frage er mich, wie ich die Reise vom Mars hierher auf die Erde überstanden habe. Du bist bestimmt ein Flüchtlingskind. Nein, nein. Ich hatte eine Tante in Albanien. Ich habe einen Bruder in Albanien. Einer meiner Großväter war aus Albanien. Wie viele Großväter hast du? Drei bis vier. Je älter ich werde, desto mehr werden es.

Der Grenzbeamte freut sich. S’ka mundësi, das sei unmöglich, ruft er fassungslos, als ich ihm erzähle, dass ich Gedichte übersetze, und schnalzt mit der Zunge. Innerhalb kürzester Zeit wissen alle am Grenzübergang wartenden Reisenden, dass hier jemand aus Österreich ist, der Albanisch spricht und Gedichte übersetzt. Was haben wir euch zu bieten, sagt er, ihr habt doch schon alles. Kafka, Goethe, Stefan Zweigu, Hitler, dhe mos harojmë Falco! Rock me Amadeus, singt der Grenzbeamte. Wer Albanisch spricht, ist Albaner. Ich bekomme ein Visum als Albaner im Exil und zahle keine Einreisegebühren.

"Bist du aus Wien?" In Wien bin ich selten gewesen, Wien ist die Stadt, aus der zu sein ich am häufigsten verneint habe. Das hindert den Grenzer nicht daran, von Wien zu schwärmen, Wien, wo er nie gewesen ist, das aber gewiss eine wunderbare Stadt sein muss. Mrekullushem. Im weißen Mercedes neben mir winkt jemand, beugt sich aus dem Fenster. Der Fahrer wünscht eine gute Reise, und Glück im Leben. Gjithë te mirat, alles Gute. Bravo, brüllt er, danke, dass du Albanisch gelernt hast! Er schreit, und aus den wartenden Autos winken, schreien und hupen lauter fremde Leute. Als ich weiterfahre, klatschen sie, als wären wir in einer Theatervorstellung. Man hat aber vergessen, mir zu sagen, welche Rolle ich spiele. Gern geschehen, schreie ich zurück.

Kaum kommt man über diese Grenze, fangen die Wunder an. Kaum komme ich über diese Grenze, fange ich zu schreien an. Auf albanischem Staatsgebiet verwandeln sich alle Autos in einen Mercedes. Die meisten in einen weißen D 200, manche in einen weißen D 190, und einige in einen roten oder schwarzen D 200, die übrigen in einen grünen D 190. Die ersten sieben Autos, denen ich nach der Grenze begegne, sind weiß und Mercedes D 200. Das nächste ist grün und ein Mercedes D 190. Unterwegs zähle ich: fünfzig Wägen, siebenundzwanzig Mercedes; Frage: Warum ausgerechnet ein Mercedes? Antwort: Das ist das beste Auto.

Mittlerweile hat das beste Auto auch in Albanien einige asphaltierte Flächen zur Verfügung. Die neue Schnellstraße ist fertig, aber mit Betonblöcken versperrt, bis der Minister sie eröffnet. Wann, weiß man nicht. In der Zwischenzeit holpere ich mit durchschnittlich 30 km/h über die alte Straße voller Schlaglöcher, von der aus ich eine gute Aussicht auf die neue, glatte habe.

Ungefähr eine halbe Stunde nach der Grenze kommt man an einen See, in dem die wohlschmeckendsten Fische der Welt schwimmen, wenn man den Bewohnern der an seinen Ufern gelegenen Stadt Shkodra glauben mag. Ich weiß natürlich, dass der wohlschmeckendste Fisch der Welt im Mittelmeer schwimmt, ein sichelförmiges helles Band auf der Stirn trägt, zwei Flecken auf den Wangen, und Goldbrasse heißt.

Das hinter dem See aufragende Gebirge wird sogar von Leuten aus Tirana selten besucht, weil dort teilweise noch der Kanun gelten soll, ein seit Jahrhunderten überliefertes albanisches Gewohnheitsrecht, das die vom übrigen Europa mit Schaudern zur Kenntnis genommene Blutrache präzisiert. Unter anderem. Denn dieser in den 1950er-Jahren von der Münchnerin Marie Amelie Freiin von Godin ins Deutsche übersetzte Kodex enthält eine Reihe bemerkenswerter Kapitel. Zum Beispiel das vierte, in dem es um Grenzen geht. Die Grenze wird durch große Spitzsteine bezeichnet, die unter die Erde und über die Erde ragen; zur Grenzzeichnung kann auch altes, gelagertes Holzwerk dienen.

Eine umgefallene Tankstelle

Interessanterweise sind die Bewohner dieser Berge katholisch, also eine Minderheit, wenn es stimmt, dass das Land mehrheitlich muslimisch ist. Neuerdings bekreuzigen sich sogar die Passagiere jedes Mal, wenn der Bus bei einem der auf Felsen in die Flüsse gestellten Kruzifixe vorbeikommt. Grenzsteinversetzen gilt gleich dem Spielen mit dem Totengebein. Wer sich anschickt, eine Grenze zu bezeichnen oder einzurichten, wird es mit Ernst tun, wird in die Armbeuge Stein und Erdklumpen legen und den beiden Dörfern oder Stämmen vorausziehen, um die Grenze zu setzen oder die Zeichen der alten Grenze neu zu befestigen.

Hier ist die Nacht noch dunkel, die Straßen unbeleuchtet, auch werden sie Autobahn genannt. Ein Herr im grauen Anzug läuft am Rand der Autobahn Richtung Tirana. Hinter der nächsten Kurve steht ein meterhohes, neonrot erleuchtetes Kreuz zwischen den Bäumen. Auf einmal bricht der Asphalt ab. Instandhaltungsarbeiten, ruft mir ein Polizist durchs Autofenster zu. Er markiert das Ende der Fahrbahn mit seinen Armen, hält die Handflächen als Stopptafeln hin. Ich warte. Die Straße wird asphaltiert. Heiß dampft es aus dem Teer. Der weiße Mercedes vor mir hat einen deutschen Aufkleber "Sicher zur Arbeit, sicher nach Hause". Kurz vor Tirana komme ich zu einer umgefallenen Tankstelle. Die Dachplatte steckt neben den Zapfsäulen an zwei Ecken im Boden.

You are my sunshine, my only sunshine, you make me happy, when skies are grey. Die Sängerin ist eine Sonnenblume aus Stoff. Der Stiel aus Plüsch windet sich, wenn sie singt. Die Musik erklingt aus dem Topf. Niemand grinst. Alle schweigen. Ich bestelle ein Glas Wasser, bezahle das Benzin. Das dicke Barmädchen drückt auf die Taste der Kasse, die Lade mit dem Wechselgeld springt heraus. Die Blume ist still. Das Mädchen gibt mir die Münzen über den Tresen. Die Blume beginnt zu singen. Ich lächle das Mädchen verschwörerisch an, wir wissen beide, singender Plüsch ist nicht ernstzunehmen. Sie nimmt die Stoffpflanze mit Mörderblick. Das Messer hat sie gleich zur Hand. Sie sticht in den Topf, von oben, wo die Erde wäre, wäre es ein echter Blumentopf. Die Sonnenblume singt unbeirrt weiter. Sie schneidet ihr den Stiel durch. Die Plüschblüte fällt auf den Tresen, zwischen schmutzige Tassen und Löffel.

Der Grenzstein hat die Zeugen hinter sich. Den Grenzstein umgeben die Zeugen. Diese bestehen aus sechs oder zwölf Kieseln, die rund um den Grenzstein eingegraben werden. Seit ich mich verliebt habe, mag ich, was ich nie mochte. Den Rauch billiger Zigaretten. Halbverbrannte Fische, zu jung aus dem Wasser gezogen.

Benzingeschwängerte, staubige Luft. Gesalzenes Joghurt, mit Wasser verdünnt. Verliebt in dieses Land, meine ich, Albanien. "You love your country", sagt eine Freundin zu mir, als ich ihr von einem Wien erzähle, in dem mir als Kind die Rolltreppen das Herz höher schlagen ließen und eine in meiner Erinnerung enorm breite Straße mit etlichen, unerschöpflich reich bestückten Buchhandlungen. Manche Länder lassen sich aber nicht lieben, nicht, wenn man dort aufgewachsen ist. Auch Albanien gehört zu diesen Ländern. Kein Albaner, der mir jemals lautstark verkündet hätte, sein Land zu lieben. In dieser Hinsicht sind wir uns (auch) sehr ähnlich.

Um jedes Missverständnis auszuschließen, wird die Grenze nicht in Biegungen, nicht geschlängelt sein, sondern gerade gezogen. Ich denke, wir haben miteinander getauscht. Er trage es "tief im Herzen", sagt ein albanischer Freund, der jetzt in London lebt, über Österreich. Er halte es fest "in seiner Seele", sagt ein anderer, der erst einmal dort war (bzw.: hier), als Kind. Es sei seine liebste Gegend in ganz Europa, sagt ein Dritter. Ja, ich glaube, wir haben miteinander getauscht, ein Waisenland adoptiert, das keiner mag, und weil es das merkt, will es sich selber schon lang nicht mehr in den Spiegel schauen, davon ausgehend, da werde es sich mit so einem grauslichen Ungeheuergesicht anblicken, dass es sofort sterben müsse, zu Tode erschrocken vom eigenen Antlitz. Deswegen haben wir getauscht, die Albaner und ich. Irgendwo muss man hin mit dem, was ich für ein Gefühl halte: Liebe. Womöglich ist es eine chronische Hormonstörung. Vielleicht ist die Liebe einfach unsere Erfindung. Eine höchst gelungene Erfindung freilich. Ohne sie wäre (mir) das meiste zu anstrengend. Ernähren tut sie sich von der Schönheit.

Als Heranwachsender hat ihm ein Mädchen aus seiner Stadt sehr gefallen. Wenn einem als Heranwachsendem jemand gefiel, versuchte man, so viel wie möglich über sie herauszufinden. Man erwartete sie. Verfolgte sie, sobald man sie aufspürte. Sie tat, als merke sie nichts, als gäbe es einen gar nicht. Man fand heraus, wo sie wohnte. Stand hinter dem Zaun, wenn sie die Wäsche aufhängte. Oder vielleicht war es auch ihre Mutter, die da Leintücher über die Schnur drapierte, man sah sie nur von hinten. Sie ähnelten einander, die Mutter und die Tochter. Nein, es war bestimmt sie. Sonst hätte man nicht solches Herzklopfen gehabt, beim Zuschauen. Sie fuhr sich mit den von der Wäsche feuchten Handflächen übers Haar. Einmal merkte sie offensichtlich, dass er schon seit Mittag hinter einem Baum vor ihrem Garten stand. Er schämte sich. Da fiel ihm ein, dass er der einzige Mensch in der Stadt war, der eine Jacke anhatte, die man beidseitig tragen konnte. Außen war sie grün, innen weiß. Als das Mädchen gegen Abend auf die Straße heraustrat, hatte er die weiße Seite nach außen gekehrt, war einer mit einer weißen Jacke geworden, ein ganz anderer als derjenige, der sie den ganzen Nachmittag über beobachtete, einer, der mit demjenigen rein gar nichts zu tun hatte. In dieser neuen Jacke würde er sich getrauen, sich aufs Brückengeländer zu setzen, in aller Öffentlichkeit anzuschauen, wie sie mit ihrer Mutter den Boulevard entlangschlenderte.

Schönheit ist am Höhepunkt, bevor sie geschieht; wenn man ihn ihr ansieht, ist sie bereits vergangen. Bleibt aber der Erschlagene nicht auf dem Fleck tot liegen, ermannt er sich und dringt ein auf den Grund des anderen, sei es aufrecht, sei es auf dem Bauche kriechend, wie tief er auch über die fremde Grenze drang, dort, wo er durch seine Wunden ermattet endgültig hinsinkt und stirbt, dort werden seine Grenzsteine errichtet, sie gelten als Grenze, und seien sie auf fremdem Grunde.

Grenzen stimmen nie. (Andrea Grill, ALBUM/DER STANDARD, 09./10.02.2008)