Bagdad/Wien – Wieder eine neue Studie, wieder eine Höchstzahl von Gewalttoten im Irak seit 2003: eine Million. Opinion Research Business (ORB), von der Nachrichtenagentur Reuters als „eines der führenden britischen Meinungsforschungsinstitute“ bezeichnet, befragte im August und September des Vorjahres 2414 erwachsene Iraker und Irakerinnen, von denen 20 Prozent mindestens einen Toten im Haushalt beklagten. Hochgerechnet auf 4,05 Millionen Haushalte würde das zwischen 946.258 und 1,12 Millionen Tote bedeuten.

Andere Studien der vergangenen Zeit kommen auf 48.000 Tote (Iraq Body Count, IBC), 151.000 (WHO mit irakischer Regierungskooperation) und 600.000 (John Hopkins Bloomberg School of Public Health).

Längst sind die Zahlen der seit der US-Invasion getöteten Iraker ideologischer Zankapfel. Den einen können sie nicht hoch, den anderen nicht niedrig genug sein. Anfang Jänner griff ein Artikel im Wall Street Journal die Autoren und den Sponsor (George Soros’ Open Society Institute) der Hopkins-Studie als – weil Irakkriegsgegner – unglaubwürdig an.

Die Methodologie wird in dem Artikel gar nicht diskutiert, neben den politischen Ambitionen eines Beteiligten ist der Hauptangriffspunkt, dass der Chef der Datensammler im Irak Beamter des Gesundheitsministeriums unter Saddam Hussein war. Für die „andere“ Seite ist damit das Urteil gesprochen, die Studie war ein „Komplott“.

Selbstverständlich geht es dabei hintergründig um die Frage, ab welcher Zahl der Krieg seine moralische Rechtfertigung verliert – kritisch wird es offenbar, wenn die Opferbilanz quasi Saddam’sche Dimensionen annimmt. Dass solche statistischen Debatten über politische Fragen zynischer Unsinn sind, scheint beiden Seiten in dieser ideologischen Schlacht nicht aufzufallen.

Wie kommt es aber zu den unterschiedlichen Zahlen? Die Methodologien könnten unterschiedlicher nicht sein. IBC zählt die medial gemeldeten Toten, Hopkins befragte 1849 Haushalte (mit etwa 12.000 Personen). Bei beiden sind die Unsicherheiten mit eingebaut, meint der aufs Thema spezialisierte Belgier Michel Thieren in seinen Artikeln. Im Irak, einem wegen der Sicherheitslage journalistisch notorisch unterversorgten Land, reichen Meldungen zur Erfassung nicht aus.

Für die Hopkins-Studie wiederum gilt, dass ein kleines Sample (das wäre dann auch bei der neuen ORB-Studie so) bei Kriegsverhältnissen wie im Irak durch statistischen Fehlerausgleich nicht korrigiert werden kann. Nicht nur die Repräsentativität ist ein Problem: Befragte und Befrager sind gleichzeitig potenzielle Partei im Konflikt, die Antworten oft dementsprechend.

Die Hopkins-Methodologie verteidigt Thieren jedoch als prinzipiell seriös: 80 Prozent der Todesfälle wurden durch Urkunden belegt (wenn man es nicht als simple „Fälschung“ abtut – es heißt im Wall Street Journal, dass das Material nicht für Dritte zugänglich gemacht wurde). Thieren selbst neigt der WHO-Zahl zu – wobei die irakische Regierung, die an der Studie beteiligt war, zu einer Minimalisierung der Angaben neigt. Erhielt die UNO im Irak früher aus allen Leichenschauhäusern die Anzahl der eingelieferten Gewaltopfer, so wurde dies 2007 unterbunden. (drun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 1.2.2008)