Emile Hirsch in Sean Penns Verfilmung von Jon Krakauers Bestseller "Into the Wild".

Foto: DERSTANDARD/Tobis
Wien - Die Entscheidung, sich von allen bürgerlichen Sicherheiten zu trennen, wird mit zeremoniellem Gestus umgesetzt. Sein ganzes Vermögen von 24.000 Dollar schickt Chris McCandless (Emile Hirsch) an eine humanitäre Organisation, seine Kreditkarten und Ausweise zerschneidet er. Danach setzt er sich ins verbeulte Studentenauto und fährt in jene Richtung, die vor ihm schon viele andere eingeschlagen haben: gen Westen.

"Das falsche Leben" will der College-Absolvent endlich besiegen - das ist zugleich ein spirituelles Versprechen wie die Revolte gegen jene Anhäufung von materiellen Gütern, die einem die gegenwärtige Gesellschaft als höchstes Glück verkauft.

Die Sehnsucht nach einem Abenteuer, das sich nur dann in aller Intensität einstellt, wenn man alles andere dafür aufgibt, ist natürlich nicht neu, aber sie scheint sich zyk-lisch, von einer Generation zur nächsten, zu reaktivieren. Chris McCandless hat tatsächlich gelebt und brach zu Beginn der 1990er-Jahre im Alter von 22 Jahren auf seine Reise auf. Der US-Autor Jon Krakauer hat sein Leben festgehalten, das Buch wurde zum Bestseller, nun hat es Sean Penn mit "Into the Wild" verfilmt.

Im Gefolge Thoreaus

Das Schöne an der Verfilmung ist, dass sie die Geschichte dieses Trips ein wenig so erzählt, als geschähe sie das erste Mal. Sie schwingt sich zu einem Hochgefühl auf, schon in den ersten Minuten, die von Chris' letzter Station erzählen, seinem eigentlichen Ziel: Alaska, wo er in einem Wohnbus seinen Kampf gegen den Winter antritt. Henry David Thoreaus Romanheld Walden, der sich in eine Blockhütte abseits der Zivilisation zurückzog, stand für dieses Projekt offensichtlich Pate.

Into the Wild handelt allerdings vor allem von einer Passage. Im Stile eines alternativen Entwicklungsromans breitet der Film die Stationen der Reise auf, die mit dem Reifeprozess des Protagonisten einher gehen (Geburt, Kindheit, Mannesalter etc.). Am Anfang (und als wiederkehrendes Initialerlebnis) steht die Revolte gegen die Eltern - ein Aspekt der Geschichte, der eine Spur zu nachdrücklich erscheint. Vater (William Hurt) und Mutter (Marcia Gay Harden) McCandless wirken wie eine amerikanische Vorzeigefamilie, bis sich nach und nach herausstellt, dass ihr Reihenhausglück auf einem morschen Fundament steht.

Der Ausbruch aus der familiären Ordnung wird für den trampenden Chris - sein Wagen bleibt bald in der Wüste von Arizona hängen - zur Begegnung mit einer Gesellschaft, die mannigfaltige Identitätsentwürfe anbietet. Zu ihr gehören ein Hippie-Paar (Catherine Keener, Brian Dierker), das als Chris' Ersatzeltern fungiert, ein kumpelhafter Mähmaschinenfahrer (Vince Vaughn) oder der alte Ex-Soldat Ron (Hal Holbrook), der vom jugendlichen Enthusiasmus Chris' angesteckt wird und allmählich immer mehr von sich preisgibt.

Kraftvolle Bildsprache

Was "Into the Wild" allerdings jenseits seiner optimistischen Botschaft, dass die Welt reich an teilbarem Glück ist, zu einem außergewöhnlichen Film macht, ist die kraftvolle Bildsprache, mit der diese Einsicht vermittelt wird. Penn hat weite Strecken des Films mit Handkamera (Eric Gautier) drehen lassen, was ihm hohe Plastizität verleiht. Die vielseitigen Landschaften der USA spielen eine ebenso große Rolle wie die Menschen, die sie bevölkern: von den Naturpanoramen Nordkaliforniens und ihrem urbanen Gegenpart, in denen Chris wie von selbst diverse soziale Rollen anzunehmen scheint; von den weiten Getreidefeldern von South Dakota über die reißenden Wildwasserströme des Colorado River bis zur Tramp-Siedlung Slab-City, in der sich das fahrende Volk zu einer Siedlung zusammengeschlossen hat.

Die Bilder des Landes, die Sean Penn zu einem Mahlstrom aus Stimmungen montiert und mit lyrischen Eddie-Vedder-Songs unterlegt, könnten sich leicht in Kitsch verwandeln, aber Into the Wild gelingt es stets, genügend Ambivalenz zu wahren. Chris - dem Emile Hirsch ein wenig die verträumte Ausstrahlung eines River Phoenix gibt - ist nicht frei von einer gewissen Dogmatik, die seine ersehnte Freiheit auch gefährden kann. Als er endlich Alaska erreicht hat, trennt ihn ein reißender Fluss vom Rest der Welt. Dieser Punkt ist sein Himmel und seine Hölle zugleich. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD/Printausgabe, 31.01.2008)