"Es gibt zwei Arten von Armut: Die schöne Armut – die hätten die Leute gern. Das arme Hascherl, die arme Frau, die ganz unschuldig in Not ist. Und die hässliche Armut: die riecht man schon"

Foto: MOMENT/Andrea Salzmann

Die aktuelle Ausgabe der Menschenrechts-Gazette MOMENT ist bei SOS Mitmensch und im Straßenverkauf erhältlich. MOMENT erscheint vierteljährlich, die Artikel sind auch online abrufbar

"Ein Armer hat das Recht, zu stehlen": Mit Aussagen wie diesen macht sich der Grazer Pfarrer Wolfgang Pucher nicht nur Freunde. In seinem VinziDorf leben Menschen, die, wie Pucher meint, von der Gesellschaft "ausgespuckt" wurden. Das folgende Interview mit Wolfgang Pucher ist in der aktuellen Ausgabe der Menschenrechts-Gazette MOMENT erschienen. Auf derStandard.at können Sie auch die Langversion nachlesen. Die Fragen stellte Maria Sterkl.

MOMENT: Die BewohnerInnen Ihrer Einrichtungen erhalten bei Bedarf Arztbesuche. Warum gehen sie nicht selber zum Arzt?

Wolfgang Pucher: Verarmte Menschen gehen zu keinem Arzt. Sie haben eine Abneigung gegen Ärzte.

MOMENT: Woher kommt diese Abneigung?

Pucher: Sie würden auch nie auf eine Gerichtsvorladung reagieren oder auf eine Behörde gehen. Da die Gesellschaft sie ausgespuckt hat, verweigern sie sich ihr. Diese Menschen sind die einzigen freien Menschen, die es noch gibt. Sie leben, wie sie wollen.

MOMENT: Das klingt so, als beruhe das Leben in Armut auf einer freien Entscheidung.

Pucher: Ich meine das anders. Wenn ein Mensch aus einer Gruppe ausgeschlossen wird, dreht er den Spieß um und sagt: Wenn sie mich nicht wollen, will ich sie auch nicht. Den ersten Schritt setzt also nicht er. Alle Obdachlosen haben einmal versucht, ein normales Leben zu führen. Aber wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und ich glaube, man überschätzt die Fähigkeit der Menschen, sich in die Gesellschaft zu integrieren.

MOMENT: Ist das überhaupt wünschenswert?

Pucher: In dieser Gesellschaft? Nein. Es hat tolerantere Zeiten gegeben. Wenn Alkoholiker noch in der Gesellschaft sind, zum Beispiel trinkende Ärzte, dann wird das toleriert. Wenn sie ausgestiegen sind, heißt es: So nicht. Es gibt ja zwei Formen der Armut: Die schöne Armut – die hätten die Leute gern. Das arme Hascherl, das arme Kind, die arme Frau, die ganz unschuldig in ihre Not gekommen ist – das zerreißt das Herz und öffnet Tür, Tor und Brieftasche. Aber es gibt auch die hässliche Armut. Und die ist zahlenmäßig viel größer.

MOMENT: Wie sieht diese Armut aus?

Pucher: Wenn ein wirklich Hilfsbedürftiger bei der Tür hereinkommt, rieche ich ihn – der Zigarettengestank, die Körperpflege, die aus den Umständen heraus einfach nicht möglich ist.

MOMENT: Wie geht man mit der hässlichen Armut um?

Pucher: Ich habe einmal definiert, dass es eigene Rechte für Arme gibt: Ein Armer hat das Recht zu stehlen, zu lügen. Einmal ist ein leicht Angetrunkener bei meiner Tür rein gekommen und hat mich um etwas Geld für eine Straßenbahnkarte gebeten. Ich habe ihm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt. Es ist sein Recht, auf diesem Weg zu dem zu kommen, was er braucht.

MOMENT: Müssen Gesetze nicht für alle gelten?

Pucher: Arme haben sich natürlich an die moralischen Gesetze unserer Gesellschaft zu halten. Aber: Wenn ihnen fundamentale Rechte genommen werden, und wenn sie dann Grenzen überschreiten, dann habe ich nicht das Recht, über sie zu urteilen.

"Die, die es am wenigsten bräuchten, die Hofratswitwen, fordern jeden Cent ein"

MOMENT: Sie stellen arme Menschen als Opfer dar. Die Politik wünscht sich aber mehr Eigenverantwortung. Kann man armen Menschen vorwerfen, dass sie zu wenig unternehmen, um sich aus ihrer Notlage zu befreien?

Pucher: Würden alle Sozialhilfe-Berechtigten in der Stadt Graz ihre Rechte einfordern, wäre das Sozialbudget der Stadt am Monatsende weg. Aber es ist nie weg – und warum? Weil die, die es am allermeisten brauchen, gar nicht wissen, dass sie diese Rechte haben. Und die, die es am wenigsten bräuchten, die Hofratswitwen, fordern jeden Cent ein, und finden Hintertürln, wenn sie den Strafzettel nicht bezahlen wollen. Da liegt das Dilemma. Man kann seine Eigenverantwortung nur noch bedingt wahrnehmen, wenn einem alles fehlt.

MOMENT: Was haben Sie als Kind an Ihrer eigenen Armut als am schlimmsten empfunden?

Pucher: Solange ich in meinem Dorf war, habe ich mich nicht einmal arm gefühlt. Später, im Bischöflichen Seminar, musste jeder sein eigenes Bettzeug mitnehmen. Ich war der einzige, der keine Matratze hatte, sondern einen Strohsack, und ich wurde ausgelacht. Da ist mir Armut als etwas Schmerzliches begegnet.

MOMENT: Gilt das auch im großen Stil? Ist Armut in einem Armutsumfeld leichter erträglich?

Pucher: So ist es. Darum muss es Edelghettos für Arme geben. Das Vinzi-Dorf ist ein solches Edelghetto: Da fällt keiner auf, da wird niemand belächelt, alle sind gleich. Und man stellt ihnen das zur Verfügung, was sie selber nicht leisten können. Sie haben immer frische Kleider, sie pflegen sich. Draußen waren sie Außenseiter: Die Integration von Armut macht Arme noch ärmer.

MOMENT: Was Sie als Edelghetto bezeichnen, bezeichnen andere als Parallelgesellschaft. Pucher: Ja, weil sie Gesellschaften nicht akzeptieren. Sie akzeptieren den Einzelnen innerhalb der Gesellschaft nicht, und sie akzeptieren auch nicht, wenn sich die Einzelnen zusammenschließen.

Der VinziBus versorgt arme Menschen mit Essen und Getränken

MOMENT: In Österreich besitzt ein Prozent der Gesellschaft 34 Prozent des Vermögens. Sollte der Staat die Reichen zwingen, mehr herzugeben?

Pucher: Nein, das ist der falsche Weg. Die Reichen sind der Motor einer sich materiell bessernden Gesellschaft. Beobachten Sie auf längere Zeit die Ärmsten in unserer Gesellschaft, und Sie werden bemerken, dass die, die jetzt noch furchtbar arm sind, vor zehn Jahren noch ärmer waren. Sie naschen mit.

MOMENT: Das ändert aber nichts an der Verteilung des Vermögens.

Pucher: Den Reichen etwas wegzunehmen, das hat nirgends funktioniert, weil der Reichtum ja aus Begabung, Fähigkeiten und Gaunerei entsteht. Und die Begabung behalten Sie ja.

MOMENT: Aber dieses „Wegnehmen“ gibt es ja bereits in Ansätzen – zum Beispiel bei der progressiven Einkommenssteuer.

Pucher: Ich will eigentlich keine politischen Fragen beantworten. Ich habe einen sehr wohlhabenden Transportunternehmer in meiner Pfarre. Unsere Gemeinde könnte ohne ihn nicht existieren. Es wird niemand abgewiesen, wenn er fragt: Kannst du mir meine Möbel von A nach B führen? Und er verlangt keinen Cent dafür.

MOMENT: Wenn Sie aber sehen, dass es Menschen ohne Wohnung gibt, und andere, die 50 Häuser besitzen, finden Sie das akzeptabel? Ist das gerechte Verteilung?

Pucher: Ich glaube, dass es Dinge gibt, die nicht veränderbar sind. Es kann nur funktionieren, indem man den Einzelnen motiviert. Aber mit Gewalt ist der Mensch nicht zu bekehren.

MOMENT: Ist das Ihr Appell an die Eigenverantwortung?

Pucher: Eigentlich schon, ja. Jeder soll geben, was er kann, und weil er es kann, soll und muss er auch!

MOMENT: Sind die Menschen heute weniger bereit zu teilen?

Pucher: Im Rahmen des zunehmenden Wohlstands: Ja. Die Spenden, von denen wir leben, kommen alle von kleinen, bescheidenen Leuten. Je mehr einer hat, desto mehr wird er verhärtet.

MOMENT: Warum?

Pucher: Weil das Geld immer mehr einen Selbstwert bekommt. Ich kenne einen Wirtschaftstreibenden, der jeden Morgen die Aktienkurse der Zeitung studiert. Und wenn seine Aktien ein halbes Prozent gesunken sind, kann er nicht mehr frühstücken und sein ganzer Tag ist verhaut. Sein ganzes Denken ist nur mehr Geld, Geld, Geld.

MOMENT: Vielleicht ist Ihr Transportfirmenchef auch Aktienunternehmer.

Pucher: Ich kann es mir vorstellen. Aber ich will ja nicht grundsätzlich den Besitz von Geld kritisieren, sondern die damit steigende Verantwortung einmahnen. Je mehr ein Mensch mitbekommen und erreicht hat, umso höher ist seine Verantwortung für sich und für die Gesellschaft. Und gerade die lassen es am meisten mangeln.