Hans-Peter Kapfhammer ist seit fünf Jahren Vorstand der Psychiatrischen Universitätsklinik in Graz

Foto: privat
derStandard.at: Was war zuerst: Die Angst oder die Sucht? Handelt es sich hier um temporäre Entwicklungsschritte oder um Abläufe, die wechselwirksam stattfinden?

Kapfhammer: Beide Perspektiven sind wichtig. Man kann fragen: Welche Bedeutung hat Angst und Zwang im Sinne einer Risikoträchtigkeit in eine Suchtentwicklung einzutreten. Oder, dass wir sehen, dass Suchtverhalten außerordentlich komplex organisiert sind. Also Angst und Zwang auch als Folge der Sucht auftreten können.

derStandard.at: Inwieweit können Ängste in die Sucht führen?

Kapfhammer: Wenn man sich das genauer anschaut, kann man feststellen, dass im Vorfeld einer Suchterkrankung, ganz egal um welche Abhängigkeitsform es geht, Angst einen fördernden Effekt hat. Das heißt es gibt eine hohe Überlappung zwischen Angsterkrankungen und der Aufnahmewahrscheinlichkeit von suchtstiftenden Substanzen. Das lässt sich bei den Zwangsstörungen aber nicht sagen.

derStandard.at: Welcher Zusammenhang ist zwischen Sucht und Zwang zu erkennen?

Kapfhammer: In einem chronischen Stadium der Sucht fehlt vielen Patienten das Ausmaß ihr Suchtverhalten subjektiv zu kontrollieren. Und das ist dem Verhalten von Zwangspatienten sehr ähnlich, die sagen: "Ich muss es machen, ich bin getrieben." Das heißt, dass nicht mehr das anfängliche Drängen nach einer Lusterfahrung da ist, sondern dass es eher darum geht, das Auftreten von Angst und Spannungszuständen zu kontrolliert und kompensieren.

derStandard.at: Welche Rolle spielt die Angst in der Sucht?

Kapfhammer: Wir wissen, dass viele Substanzen eine angstlösende Komponente haben. Alkohol hat zum Beispiel eine geradezu ideale Komponente als Anxiolytikum (Anm: Angstlöser).Das Problem beim Alkohol ist aber, dass das meist nur sehr kurzfristige Effekte sind. Das heißt in einem toleranten Konsumlevel bis 1,0 Promille haben Sie den bekannten Effekt der Enthemmung, der Angstlösung und Kontaktförderung. Aber ab einem bestimmten Serumspiegel kippt der Effekt und geht eher in Richtung Depression. Das heißt hier werden melancholische, nachdenkliche, traurige Effekte getriggert.

Und wenn man sich an die Substanz gewöhnt, spielt die Angst selbst, genauso wie beim Entzug eine große Rolle.

derStandard.at: Was geschieht da?

Kapfhammer: Man merkt den nachlassenden Effekt der Drogenwirkung, behält aber die Depression und bekommt zusätzlich noch Angst. Dadurch fängt man wieder verstärkt zu trinken an, um die Angst in den Griff zu bekommen.

Körperliche Entzugserscheinungen sind nichts anderes als Zeichen einer schweren inner-organismischen Aufgeregtheit und Aktiviertheit, die wir auch als körperliche Angst bezeichnen können. Und das ist die erneute Eintrittspforte in das Konsumverhalten der Sucht.

derStandard.at: Gilt das Beispiel "Alkohol" auch für viele anderen Suchtmittel?

Kapfhammer: Es gibt im Einzeleffekt natürlich unterschiedliche Akuteffekte. Das heißt: Kokain aktiviert und steigert die Lusterfahrung, Alkohol enthemmt, Opiate wirken euphorisierend und Amphetamine haben einen leistungssteigernden Effekt.

Aber trotzdem haben alle Substanzen im schematischen Suchtverlauf eine sehr große Ähnlichkeit.

derStandard.at: Spielt die Angst auch eine Rolle bei der Drogenwahl?

Kapfhammer: Das kann am Anfang durchaus eine maßgebliche Rolle spielen. Wenn jemand unter sozialen Ängsten leidet und mit bestimmten Substanzen plötzlich Kontakt aufnehmen kann und sich kommunikativ in einer Gruppe bewegen kann, dann ist das im Moment eine Möglichkeit für ihn unlösbare Konflikte zumindest einmal zu überdecken.

Und das ist hochattraktiv, weil es schnell geht und keine persönliche, psychologische Arbeit erfordert.

derStandard.at: Und wie sieht die Kehrseite der Medaille aus?

Kapfhammer: Es hat natürlich auch den Effekt, dass die natürlichen Ressourcen mit Konflikten umzugehen auf Dauer deutlich abnehmen.

Das heißt, dass das, was anfangs eine Problemlösung vermittelt hat, im Laufe einer Suchtentwicklung zum Kern des Problems wird. Weil die gewünschten Effekte sich sehr schnell verflüchtigen und man merkt, dass man mit seinen Problemen nicht mehr zu Recht kommt.

derStandard.at: Das heißt die Angst kommt verstärkt zurück?

Kapfhammer: Ja, das heißt die Angst kommt verstärkt zurück. Die Angst kommt möglicher Weise sogar in neuen Formen zurück. Auch das Gefühl aktiv mit Angst umzugehen leidet darunter. Und alle psychologischen Schritte, die man vielleicht noch zu Verfügung hatte, leiden durch einen langfristigen Substanzkonsum besonders.

derStandard.at: Was tun, wenn es so weit kommt?

Kapfhammer: Das Problem ansprechen. Aber eine Aufklärung alleine bringt nicht sehr viel. Die Erfahrung zeigt, dass es sehr schwer ist jemanden aus einer Suchtkarriere heraus zu führen. Das heißt, man muss langfristig mit diesen Patienten mit gehen. Und es macht gar keinen Sinn jemanden anfangs ausschließlich mit Abstinenzgeboten zu ködern. Der wird es nicht schaffen.

derStandard.at: Welche Möglichkeiten stehen dann zu Verfügung?

Kapfhammer: Es könnte sein, wenn jemand aus dem Druck der Beschaffungsnotwendigkeit heraus fällt und einigermaßen gut substituiert ist, dass das innerseelisch doch zu einer gewissen Veränderung führt.

Hier könnte dann ein nächstes Ziel formuliert werden, wie zum Beispiel die langsame Reduktion der Substanzen und das Stärken des sozialen Umfeldes. Aber das braucht komplexe sozial-psychiatrische-psychotherapeutische-psychologische Begleitungen. (nia, derStandard.at)