Gianni Hirschmüller: "Alles auf 'die Krise' zu schieben ist falsch."

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STANDARD: Was ist an dieser Krise bzw. den Abverkäufen rational, was emotional?

Hirschmüller: Es passiert eine Menge auf der emotionalen Ebene, was nachvollziehbar ist. Für die meisten Marktteilnehmer kamen die Abstürze unerwartet. Selbst die kühnsten Pessimisten hätten sich das nicht träumen lassen. Dazu kommt, dass die Abverkäufe unter ungewöhnlichen Umständen zustande gekommen sind; die Subprime-Krise war ja seit Monaten bekannt. Es ging während der Krise ja nicht immer nur runter, sondern zwischendurch auch wieder rauf.

STANDARD: Die Anleger reagieren also durchdacht?

Hirschmüller: Durchdacht ist nicht das richtige Wort. Viele können nicht anders: Die werfen ihre Papiere raus. Das passiert aber nicht zwingend irrational. Man sitzt nicht morgens beim Frühstück und überlegt, wie man am besten seine Verluste realisieren kann. Viele machen das auch aus Verzweiflung, wollen ihr Depot schützen oder werden durch Margin Calls zu Verkäufen gezwungen – das ist dann aber wieder eine rationale Entscheidung, die Notbremse zu ziehen. Die langfristigen Privatanleger, die auf ihre Rente sparen, kaufen zu allen möglichen Kursen, die reagieren auf solche Effekte nicht. Man hat gelernt, dass solche Kurseinbrüche zum Leben an der Börse dazugehören. Die, die im großen Stil verkaufen, machen das, weil sie dazu gezwungen werden.

STANDARD: Was ist der größte Fehler, den Anleger jetzt machen können?

Hirschmüller: Sich anstecken lassen. Wenn man nicht unbedingt verkaufen muss und nicht unter Zwang steht, sollte man zuwarten, bis sich die Lage beruhigt hat. Natürlich gibt es die Angst, dass es am nächsten Tag noch einmal zehn Prozent runtergeht. Typisch ist, dass man dazu tendiert, sich von so einer Verkaufsbewegung anstecken zu lassen, obwohl man vielleicht gar nicht handeln müsste. Man sollte daher immer überlegen, was man mit seinem Engagement im Markt erreichen will. Solche Überlegungen sollten aber nicht erst an einem Tag der Krise beginnen.

STANDARD: Gibt es in so einer Situation Verstärkereffekte?

Hirschmüller: Das hängt davon ab, im welchem Stadium des Trends sich der Markt befunden hat. Ist der Trend schon lange gelaufen oder ist ein Marktteilnehmer erst ganz oben eingestiegen? Dann kann so ein Effekt stark ausgeprägt sein. War der Markt aber in einem Stadium, der als neutral eingestuft wurde und in der sich die Masse sich noch nicht positioniert hat, dann ist die Verstärkerfunktion nicht so stark. Es hängt davon ab, welche Historie der Markt hinter sich hat. Mit der Subprime-Krise ist der Markt bisher ja zurechtgekommen, die Krise ist ja nicht über Nacht auf die Marktteilnehmer hereingebrochen. Viele waren da sicher schon vorsichtiger, aber es war keine Situation, in der sich Anleger Hals über Kopf in Aktien gestürzt haben. Verstärkende Effekte sind daher nicht besonders ausgeprägt.

STANDARD: Unterscheidet sich die jetzige Krise von früheren?

Hirschmüller: Der Charakter dieser Abwärtsbewegung unterscheidet sich auf jeden Fall von bisherigen Kursstürzen. Das Besondere an den Abstürzen sind die Umstände: Schwache Kurse und heftige Kursbewegungen, obwohl die USA feiertagsbedingt geschlossen hatten und die Volatilität dann normalerweise geringer ist. Das letzte Mal, als es so einen Kursrutsch gab, war 9/11. Da wusste jeder, der den Fernsehapparat eingeschaltet hatte, was geschehen ist, und warum die Aktien fallen. Das war nachvollziehbar und greifbar. Dieses Element fehlt jetzt. Alles auf "die Krise" zu schieben ist falsch: Es fehlt der Auslöser, denn negative Nachrichten über Bankbilanzen und Auswirkungen auf die Wirtschaft hat es ja laufend gegeben.

STANDARD: Kann man seriös prognostizieren, wie lange die Krise dauern wird?

Hirschmüller: Nein, das kann man nicht sagen, weil nicht klar ist, was die Marktteilnehmer als Auslöser empfinden. (Bettina Pfluger, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.1.2008)