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Rund 100.000 AfrikanerInnen wandern pro Jahr in die EU ein: "Das ist gegenüber anderen Zuwanderungsströmen vernachlässigbar", erklärt Ebermann. Doch immer mehr AfrikanerInnen wollen nach Europa migrieren: "Es besteht der weitverbreitete Eindruck, dass man in Afrika in der Misere bleibt und nur im Westen Erfolg haben kann", so der Afrikanist. Die meisten kommen nicht über die extrem gefährlichen Meer- oder Wüstenwege, sondern über Touristen- und andere Visa.

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Zur Person:
Erwin Ebermann unterrichtet am Institut für Afrikanistik und Sozial- und Kulturanthropologie der Universität Wien Sprachen und Entwicklung Afrikas sowie zur Integration von AfrikanerInnen. Seit 1991 führte er verschiedene umfangreiche Studien über die Integration von AfrikanerInnen in Wien durch.

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Wer für wenige Stunden Internet-Surfen einen Monatslohn bezahlt und dann im Internet erfährt, dass man anderswo dafür einen Bruchteil bezahlt, aber das Hundertfache verdient, denkt schnell ans Auswandern. Gerade in Afrika verankert sich die Idee der Migration nach Europa zunehmend in den Köpfen der Leute, sagt der Afrikanist Erwin Ebermann im derStandard.at- Interview : "Es besteht der weitverbreitete Eindruck, dass man in Afrika in der Misere bleibt und nur im Westen Erfolg haben kann."

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derStandard.at: Sie widersprechen anderen Forschungsergebnissen, wonach Migration vor allem über die Nachfrage am Arbeitsmarkt des Einwanderungslandes und soziale Netzwerke ausgelöst wird. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Triebfedern der Migration?

Erwin Ebermann: Für mich gibt es keinen Zweifel, dass Armut die wichtigste Ursache von Migration ist. Wobei ich hier sowohl von der absoluten wie auch der relativen Armut ausgehe. Nur den hungernden Armen als arm zu definieren, erscheint mir allzu akademisch. Wenn ein Maturant in afrikanischen Ländern sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen muss, keine Chance hat, sich technische Geräte oder Bücher zu kaufen oder sich auch nur zu verheiraten, dann ist er im Vergleich zu uns bettelarm. Als Maßstab wird eben zunehmend Europa herangezogen - und da stechen die Einkommensunterschiede ins Auge.

derStandard.at: Wie stark klaffen diese auseinander?

Ebermann: Bei allen lokalen Unterschieden verdient man in Europa bei ähnlicher Qualifikation oft 30 bis 100-mal mehr als in Afrika. Ein Dienstmädchen bekommt in Mali für 70-80 Stunden pro Woche ohne freien Tag etwa 12 bis 13 Euro im Monat. Das erwirtschaftet man hier in 1,5 Stunden. Ein Hotelmanager mit Matura arbeitet 70 Stunden die Woche ohne freien Tag und verdient 70 bis 80 Euro im Monat. Der Stundenlohn einer Anwältin in Österreich liegt beim x-fachen. Das sind Unterschiede, die nicht mehr verkraftbar sind. Daraus entsteht dann die Orientierung auf die Migration – man hat das Gefühl, dass es schon genügen würde, ein paar Monate in Europa zu sein und schon könne man endlich einmal etwas sparen und ein sorgenfreieres Leben führen. Mit 50, 60 Euro pro Monat kann man nichts akkumulieren – zu viel ist nicht abgesichert.

derStandard.at: Gleichzeitig ist aber auch das Preisniveau niedriger.

Ebermann: Das gilt nicht unbedingt. Es gibt Krankheitsfälle in der Familie, andere, arbeitslose Familienmitglieder müssen versorgt werden. Vieles ist deutlich teurer als bei uns. Wenn eine Ärztin ein medizinisches Fachbuch benötigt, kann dies bereits das Doppelte ihres Monatseinkommens ausmachen. Moderne Konsumgüter und Elektronikartikel sind extrem teuer – wurden aber auch von AfrikanerInnen als Maßstab für ein erfolgreiches Leben verinnerlicht.

derStandard.at: Seit wann wird Europa als Maßstab und damit, über die Migration, als mögliche Quelle des Wohlstandes konstruiert?

Ebermann: Dieser Prozess hat vor allem in den letzten Jahren stattgefunden. Ich fahre seit etwa 30 Jahren jährlich nach Afrika und die atmosphärischen Veränderungen sind extrem. In den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung von sich selbst als "arm" auf breiter Ebene durchgesetzt. Es zählt nicht mehr, ob es einem besser geht als dem Nachbarn, sondern nur noch der Vergleich mit dem Westen. Es besteht der weitverbreitete Eindruck, dass man in Afrika in der Misere bleibt und nur im Westen Erfolg haben kann.

derStandard.at: Und damit steigt auch der Wille zur Auswanderung?

Ebermann: Ja, absolut. Es herrscht Frustration über die Verhältnisse in Afrika. Ziel ist es, es eines Tages nach Europa zu schaffen. Bei meinem letzten Aufenthalt in Mali im Jahr 2005 wollten nahezu alle Männer unter 40, mit denen ich Kontakt hatte, dass ich sie nach Europa mitnehme. Als ich 1979 das erste Mal dort war, wurde mir diese Frage eigentlich nie gestellt. Die Idee der Migration nach Europa verankert sich zunehmend in den Köpfen der Leute – und das gilt auch für andere Länder Westafrikas und wohl darüber hinaus.

derStandard.at: Was sind die Gründe dafür?

Ebermann: Das ist eindeutig eine Folge der Globalisierung, wobei die Medien eine große Rolle spielen. Wer Internet hat, kann sehr leicht herausfinden, was er in seinem Job woanders verdienen könnte. Im Fernsehen sehen die Leute ein anderes Leben, sie entwickeln andere Konsumwünsche. Ich spreche hier nicht von Lévis-Jeans und Markenprodukten. Aber technische Geräte kosten oft das Mehrfache eines Monatsverdienstes. Oder ein Internet-Zugang: Im Hinterland kostet die Minute oft 40 Cent, und wer drei oder vier Stunden online wäre, hätte ein Monatsgehalt investiert. Es ist klar, dass in einer gewandelten Welt der annähernd gleichen Maßstäbe irrsinnig oft der Eindruck entstehen muss, dass nur Europa diese Wünsche erfüllen kann.

derStandard.at: Gleichzeitig können sich viele AfrikanerInnen die teure Migration nach Europa doch häufig nicht leisten.

Ebermann: Klar, wer mit einem Dollar pro Tag überleben muss, kann nicht nach Europa reisen, sondern nur regional migrieren. Beispielsweise reisen Wanderarbeiter von Burkina Faso oder Mali zu den Plantagen in Ghana oder Côte d’Ivoire. In einem der Dörfer in Mali, in denen ich soziologische Studien gemacht habe, war jeder Mann über 50 Jahren bereits mindestens einmal auf Wanderarbeit in über 1000 Kilometer Entfernung. Dabei sind auch die Reisebedingungen von extremer Armut geprägt. Ich bin in Viehwaggons mitgefahren – das bedeutet 26 Stunden bei Sauerstoffmangel, Gestank und hohen Temperaturen zu stehen. Da habe ich zum ersten Mal wirklich gespürt, was Armut heißt. Ich bin nach 15 Stunden entkräftet in die zweite Klasse gewechselt.

Zum einen gibt es also die regionale Migration der Allerärmsten, zum anderen reist man in der Regel in Etappen. Für viele sind zunächst nordafrikanische Länder das primäre Ziel. Und auf diesem Weg über Länder mit besseren Einkommensniveaus wie Libyen, Marokko, Tunesien kann man sich die finanziellen Mittel erwerben, die man zunächst nicht hatte.

derStandard.at: Die Schweiz hat demgegenüber mit Negativkampagnen begonnen, die EU schließt sich an – kann dies etwas bewirken?

Ebermann: Ich bin skeptisch. Denn das Lohngefälle ist ja real, das kann man nicht wegdiskutieren. Ein Einkommensverhältnis von eins zu zehn könnte man wahrscheinlich noch irgendwie verkraften, aber nicht eins zu hundert. Stellen Sie sich vor, welche Anziehungskraft es auf ÖsterreicherInnen hätte, in den USA pro Jahr eine Million Euro und mehr verdienen zu können. Da nehmen wohl viele Menschen mit Existenzproblemen ein großes Risiko der Reise und negative Vorurteile, Rassismus in Kauf.

derStandard.at: Ist AfrikanerInnen bekannt, dass sie in Europa mit strukturellem und individuellem Rassismus zu kämpfen haben werden?

Ebermann: Sicherlich – über Fälle wie Markus Omofuma wurde in afrikanischen Medien ausführlich berichtet.

derStandard.at: Nimmt Rassismus in Österreich eher zu oder ab?

Ebermann: Im Bereich des strukturellen Rassismus sehe ich eher Verbesserungen – dass im ORF zwei AfrikanerInnen als Journalisten eingestellt wurden, das ist für mich eine kleine Revolution. Klar gibt es immer noch viele Vorurteile, aber ich sehe schon auch hoffnungsvolle Zeichen. Viele Junge sind es schon vom Kindergarten oder der Schule her gewohnt, mit Menschen anderer Hautfarben ganz normal umzugehen. Das erhöht die Chancen von AfrikanerInnen. Menschen über 60 haben doppelt so häufig negative Vorurteile wie unter 60-Jährige. Das hat sich auch in meinen Forschungen bestätigt. Rassismus ist also, vereinfacht ausgedrückt, ein aussterbendes Problem. Einen rassistischen oder fremdenfeindlichen Sockel von neun bis zehn Prozent der Bevölkerung gibt es aber in praktisch jeder Kultur der Welt, der wird auch uns erhalten bleiben.

derStandard.at: Gleichzeitig werden aber auch über Medien und Wahlkämpfe Stereotype erneuert.

Ebermann: Das Stereotyp "Afrikanischer Drogenhändler" wird von manchen politischen Parteien und auch Medien sehr gerne immer wieder aktualisiert. Der Prozentsatz der AfrikanerInnen, die bei uns im Drogenhandel tätig sind, wird dadurch deutlich überschätzt.

derStandard.at: Inwieweit gibt es die Netzwerke des Drogenhandels und inwieweit sind diese auch am Menschenhandel beziehungsweise Schlepperwesen beteiligt?

Ebermann: Es gibt sicherlich diese kriminellen Netzwerke, die bis in einzelne afrikanische Länder reichen. Doch es wird nur ein kleiner Teil dort angeworben. Die meisten derjenigen, die hier mit Drogen handeln, sehen sich nach ihrer Ankunft mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, sollten Geld nach Hause senden, finden keinen Job und dann präsentiert sich über Kontakte diese Möglichkeit, in kurzer Zeit sehr viel Geld zu verdienen. Das ist eine irrsinnig starke Versuchung, vor allem für junge Leute.

Viele bekommen wahrscheinlich zu wenig mit, wie schwierig es auch für Nicht-Afrikaner ist, einen Job in Österreich zu bekommen. Wer hier auf ehrlichen Bahnen bleiben will, hat oft genug damit zu tun, überhaupt über die Runden zu kommen. Viele afrikanische Zuwanderer genieren sich für dieses "Scheitern", manche brechen den Kontakt mit der eigenen Familie gänzlich ab.

derStandard.at: Wie stark hat die afrikanische Migration zugenommen?

Ebermann: Hier gibt es extrem unterschiedliche Zahlen – Hein de Haas (Studie im pdf-Format) spricht auch vom „Mythos der Invasion“. Ihm zufolge wandern etwa 100.000 AfrikanerInnen pro Jahr in die Europäische Union ein. Das ist gegenüber anderen Zuwanderungsströmen vernachlässigbar. Doch die afrikanische Migration hat in den letzten Jahren sicherlich zugenommen – in Österreich hat sich die Zuwanderung von Afrikanern seit Anfang des Jahrtausends mehr als verdoppelt. Die meisten kommen aber nicht über die extrem gefährlichen Meer- oder Wüstenwege, sondern über Tourismus oder andere legale Visa und Aufenthaltsverlängerung.

derStandard.at: Die EU-Blue Card hat ja hier den Ansatz, Menschen die Möglichkeit zu geben, in einer gewissen Zeit ein Kapital zu erwirtschaften, um dann wieder zurückzukehren. Kann das funktionieren?

Ebermann: Theoretisch ja, aber das Projekt wurde ja auch geschaffen, um die Regierungen im Gegenzug dazu zu bewegen, illegale MigrantInnen zurückzunehmen. Insofern gibt es eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit, dass die lokalen Eliten bestimmen, wer die Blue Cards bekommt. Damit wird die eliteferne Migration in keiner Weise abgebaut. Vielmehr könnten Teile der Eliten auf durchschnittlich bezahlten Posten vorübergehend ins besser zahlende Europa gehen.

derStandard.at: Was für Möglichkeiten gibt es, Migration entgegenzuwirken?

Ebermann: Kurzfristig sehe ich keine. Langfristig muss es darum gehen, eine große afrikanische Wirtschaftszone zu schaffen und gemeinsam lokale Industrien aufzubauen. Aber da versagt auch das Management der meisten afrikanischen Staaten. Dass die Globalisierung viele Wirtschaftszweige zerstört, trifft für Afrika in wesentlich geringerem Maße zu. Nach der Unabhängigkeit haben sich in Afrika oft lokale Eliten bestehende Industrien angeeignet, monopolisiert, den inneren Wettbewerb ausgeschalten und sie damit systematisch ruiniert. Gleichzeitig stimmt natürlich, dass der Aufbau von Industrien angesichts der Globalisierung ungleich schwerer geworden ist.

Ziel sollte es sein, einen Binnenmarkt mit 800 Millionen Menschen zu entwickeln. Doch auch das würde den Migrationsdruck nicht von heute auf morgen wegnehmen. Im Gegenteil wandern oft, wenn es einem Land einkommens- und bildungsmäßig ein bisschen besser geht, die Qualifizierten sogar eher ab. Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Matura in Mali ist auch fast doppelt so hoch wie unter Unqualifizierten. (Heidi Weinhäupl, derStandard.at)