Verantwortungsentwöhnte Verdrängungsgesellschaft: Alexander Gier, Jannek Petri, Nicole Reitzenstein (v. li.).

Foto: Brachwitz
Was der sensitive britische Bühnen-Analytiker Martin Crimp (seine Stücke Der Dreh und Auf dem Land waren am Landestheater bereits zu sehen) schon vor zwanzig Jahren zum Thema Kindesmissbrauch mit kühlem Diagnoseblick feststellte, könnte aktuell zu den Beziehungsschrecken der Zeitungsgerichtsseiten entstanden sein. Damals wie heute muss einer konsumistisch betäubten, von Verantwortungen entwöhnten Verdrängungsgesellschaft vorgeführt werden, was sie den Wehrlosen, gleichgültig ob in Geriatrie oder Kinderbett, anzutun imstande ist.

Das stille Kind (Deutsch von Anton Rey und Rosee Riggs) mag zwar kein wirklich gut gebautes Theaterstück sein, aber die flüchtigen Dialogskizzen unter moralisch durchschnittlich verrotteten Miethausbewohnern machen mit erschreckender Klarheit fest, worin Menschlichkeitsverbrechen immer und überall verpackt und entsorgt werden. Unerträgliche Entschuldigungsfloskeln, Ablenkungsmanöver und Selbsttäuschungspraxis rieseln zwischen völlig überforderten Großstadt-Normalos, alles Nebenbei-Gewalttäter und neugierig-feige Beobachter.

Die etwas zu zaghafte Regisseurin Julia von Sell (vormals Burgtheaterschauspielerin) geht diskret vor. Es dauert lange, bis das Ungeheuerliche bedrückend im Raum steht, bis klar wird, was der beim Sex gestörte Nick im lautlosen Kindernebenzimmer anstellt. Alexander Gier, Nicole Reitzenstein, Verena Koch, Jannek Petri und Bettina Storm liefern zu einer blassen Personenführung intensive Einzelstudien des Charakterlosen, darunter das Rechtfertigungs-Palaver eines jungen Mannes, der das Töchterchen seiner passiven Bettgenossin dressieren und aus dem Alltag ausschalten möchte.

Das Opferkind bleibt abwesend, es geht immer um billige Befriedigungen innerhalb einer schäbigen Erwachsenenwelt, auch um behördliches Versagen. Das Stück hat es heute ziemlich schwer. Was medial täglich bekannt wird und aus Poltikermündern schwappt, ist schockierender und belangloser, als es Kunstmittel abzubilden vermögen. Die Linzer Kammerspiele waren auffallend schnell leer. (gugg, DER STANDARD/Printausgabe, 22.01.2008)