"Auf dem Kontinent stellte 1968 sicher keinen so großen Bruch in den sexuellen Konventionen dar", meint Eric Hobsbawm. "Wien zum Beispiel war in dieser Hinsicht immer schon ziemlich liberal und flexibel, nicht wahr?"

Foto: Matthias Cremer
STANDARD: 2008 jähren sich einige wichtige Ereignisse des 20. Jahrhunderts einigermaßen rund. Zumindest bei einem - der Machtübernahme Hitlers am 30. Jänner 1933 - waren Sie selbst Zeitzeuge. Wie haben Sie das damals in Berlin erlebt?

Hobsbawm: An diesen Tag erinnere ich mich besonders genau. Ich kam nach der Schule nach Hause und hörte, dass Hitler an die Macht gekommen sei. Es gibt wenige Momente, wo man sich klar ist, dass man an einem historischen Wendepunkt steht. Und das war so ein Moment.

STANDARD: Das war Ihnen als Fünfzehnjähriger bewusst?

Hobsbawm: Ja. Es war mir klar, dass sich von nun an alles ändern würde. Man hatte schon so lange Angst davor gehabt. Einige Wochen später beim Reichstagsbrand wurde dann absolut klar, welche dramatischen Folgen diese Niederlage der Linken haben würde.

STANDARD: Hätte sich diese Niederlage verhindern lassen?

Hobsbawm: Ich bin mir da heute überhaupt nicht mehr sicher. Natürlich wäre die Linke damals zusammen stärker gewesen. Nur war das völlig undenkbar, dass damals die Sozialdemokratie und die Kommunisten zusammengearbeitet hätten. Aber selbst das hätte nicht genügt, da die anderen regimetreuen Parteien auch abgebröckelt sind.

STANDARD: Bleibt die Frage, wie es zur Machtübernahme Hitlers kommen konnte.

Hobsbawm: Ich habe den Eindruck, dass damals alle Leute Hitler unterschätzt haben. Man hat sich nicht vorstellen können, dass so etwas an die Macht kommt. Ich erinnere mich an den Sommer 1932, als die große Wahl war und die Nationalsozialisten gewannen, aber nicht genug Stimmen hatten. Eine Zeitschrift, die wir abonniert hatten, titelte sinngemäß: "Lasst ihn heran und Politik machen". Die Leute glaubten, dass das bloß irgendein rechter Agitator wäre, mit dem sie schon fertig würden. Das wurden sie aber nicht.

STANDARD: Wie haben Sie dann fünf Jahre später den "Anschluss" Österreichs im englischen Exil miterlebt?

Hobsbawm: Ich war da an der Universität und hatte weniger damit zu tun. Mein Schwiegervater war bereits 1937 nach England ausgewandert und hatte das alles schon vorhergesagt. Ich habe mir, wenn ich ehrlich bin, damals nicht viele Gedanken dazu gemacht. Man hatte zwar noch Verwandte hier in Österreich. Die Begeisterung der Österreicher hat mich insofern auch nicht erstaunt, weil man wusste, dass viele auf der rechten Seite standen. Der Bürgerkrieg 1934 hat mir mehr bedeutet. Ich wusste einfach, wo sich das alles abgespielt hat.

STANDARD: Ein anderes Jahr, von dem heuer noch viel zu hören sein wird, ist 1968, dessen "sexuelle Revolution" Sie für überschätzt halten.

Hobsbawm: Richtig. Für die US-Amerikaner, für die Engländer und Franzosen mag das 1968 schon ein wichtiges Thema gewesen sein. Auf dem europäischen Kontinent stellte 1968 sicher keinen so großen Bruch in den sexuellen Konventionen dar. Wien zum Beispiel war in dieser Hinsicht immer schon ziemlich liberal und flexibel, nicht wahr? Meine Tochter fragte einmal meine Schwiegermutter, ob sie bei der Heirat - das war in den 1920er-Jahren - Jungfrau gewesen wäre. Meine Schwiegermutter sagte: "Ich ziehe es vor, auf diese Frage nicht zu antworten." Dass die Studenten 1968 miteinander vögelten, war an sich ja nichts besonders Neues.

STANDARD: Was war dann das Besondere?

Hobsbawm: Das Besondere war das globale Ausmaß der Bewegung, die ja schon 1964 begonnen hatte und sich bis in die damalige Tschechoslowakei und Jugoslawien ausdehnte. Und eigenartig daran war, dass die Jugendlichen, die damals politisiert wurden, wirklich glaubten, es wäre die Revolution am Ausbrechen. Wir Älteren waren eher skeptisch.

STANDARD: Was haben Sie als Historiker damals erwartet?

Hobsbawm: Ich sagte immer: Die Leute waren revolutionär, aber nicht politisch genug. Die dachten nicht in einem politischen Sinne - also Machtergreifung und solche Sachen. Insofern war unsere Erwartung nicht besonders groß.

STANDARD: Insbesondere in Deutschland gilt 1968 als eine Abrechnung mit der Vätergeneration. War das in den anderen Ländern auch so?

Hobsbawm: Das war in erster Linie ein deutsches Phänomen. Man fing zwar auch in Frankreich an, über Vichy zu sprechen. Für die Deutschen hingegen war das ganz zentral. In Österreich ...

STANDARD: ... wo 1968 eher nur ein Mailüfterl war ...

Hobsbawm: ... waren eh alle die reinen Lamperln.

STANDARD: 1918 jährt sich heuer zum neunzigsten Mal. Für Sie ist dieses Jahr der Beginn dieses "Zeitalters der Extreme". Und dieser Beginn, so hat es zumindest den Anschein, wirkt bis heute weiter.

Hobsbawm: Man dachte ja, dass die Zertrümmerung der alten Reiche - des Habsburgerreichs, des Deutschen Kaiserreichs, des Türkischen und des Russischen Reiches - verjährt sei. Ist es aber nicht. Man schaue nur auf den Balkan und was da passierte. In diesem Sinn ist der Zusammenbruch von 1918 etwas, das viel wichtiger war als das meiste, was danach kam.

STANDARD: In dem Zusammenhang scheint der Vielvölkerstaat, der das Habsburgerreich damals war, auch wieder eine gewisse Aktualität zu bekommen.

Hobsbawm: Im Sinne des Umgangs mit ethnischen Spannungen ist das schon recht aktuell. Die Österreicher haben Bosnien viele Jahre lang regiert, ohne dort viele Probleme zu kriegen. Und heute schreitet die Balkanisierung Europas schneller und weiter fort als damals.

STANDARD: Ein anderes dringendes Problem in Europa ist der Umgang mit dem Islam. Kann man dafür was vom damaligen Bosnien lernen?

Hobsbawm: Nein, nicht wirklich. Das spielte damals noch keine Rolle. Heute entsteht dieses Problem vor allem durch die verschiedenen Massenein- und -auswanderungen. Und es ist natürlich auch etwas, was die US-Amerikaner erfunden haben, weil sie einen Feind haben wollen. Als Macht ist beim Islam aber nichts dahinter. Was wirklich ein Problem ist, dass in den meisten Ländern Europas eine große Anzahl von Muslimen leben, von denen sich ein Teil radikalisiert. Das ist eine neue politische Erscheinung, und das ist ein Problem. Aber sonst glaube ich kaum, dass es zu einem Kulturkampf kommt

STANDARD: Aber gibt es nicht in den vielen Religionen zurzeit eine gewisse Tendenz zum Fundamentalismus?

Hobsbawm: Richtig, in den meisten christlichen Religionen - bei den Evangelischen in den USA, in der katholischen Kirche - ist man sehr konservativ. Aber auch in der jüdischen Religion, sogar im Buddhismus und Hinduismus ist das der Fall. Das ist also keine muslimische Besonderheit.

STANDARD: Wie und wann wird sich das wieder entspannen?

Hobsbawm: Das wird nicht so schnell gehen. Eine Generation braucht das sicher noch. Und wie das passieren soll, ist mir leider unklar. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 1. 2008)

---> Eric J. Hobsbawm im Porträt

Eric J. Hobsbawm im Porträt

"Gefährliche" Zeiten, so lautete die deutsche Übersetzung von Eric Hobsbawms 500-seitigen Erinnerungen, mit denen der große britische Historiker vor fünf Jahren noch einmal das 20. Jahrhundert aus der Perspektive sowohl des Zeitzeugen wie auch des Zeithistorikers resümierte. Schließlich hatte der heute 90-jährige Marxist nicht wenig davon selbst miterlebt.

Am 9. Juni 1917 im ägyptischen Alexandria als Sohn eines britisch-jüdischen Kolonialbeamten und einer Wienerin geboren, wuchs er zunächst in Wien auf. Nach dem Tod der Eltern kam er 1931 zu einem Onkel nach Berlin, ehe er nach der Machtübernahme der Nazis nach England ging. Dort studierte er in Cambridge, diente im Krieg in der britischen Armee und lehrte anschließend von 1947 bis 1982 am Birkbeck College der Universität London.

Hobsbawm widmete sich besonders der Epoche von 1789 bis 1914, der er eine eigene Trilogie widmete ("Das lange 19. Jahrhundert"). Am bekanntesten wurde seine Analyse des "kurzen 20. Jahrhunderts", das er in seinem Klassiker "Das Zeitalter der Extreme" analysierte.

Der Historiker ist Träger vieler Auszeichnungen, u. a. des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung und des Balzan-Preises. Er ist zudem Mitglied des britischen Order of the Companions of Honour.

Heute Abend steht Hobsbawm im Festsaal des Wiener Rathauses im Mittelpunkt einer "Wiener Vorlesung", in deren Rahmen seine Kollegen Jürgen Kocka, Gerhard Botz, Ernst Wangermann und Hubert Christian Ehalt ab 19 Uhr sein Leben und Werk würdigen werden. (tasch/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 1. 2008)