Kluge Kameras sind dem menschlichen Auge nachempfunden – und funktionieren wie ein Teilbereich der Netzhaut.

Illustration: DER STANDARD/Kohlhuber
Während der Fußball-Europameisterschaft könnte eine solche „Smart Camera“ im Wiener U-Bahn-Netz zum Einsatz kommen. Erkennt sie zu viele Fahrgäste am Bahnsteig, dann schließt sich automatisch der Abgang zur U-Bahn-Station.

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8. Juni 2008. Nach dem Ende des ersten Europameisterschaftsspiels der österreichischen Nationalmannschaft werden 52.000 Zuschauer aus dem ausverkauften Ernst-Happel-Stadion strömen – und diverse Verkehrswege verstopfen. Die Folgen: Massen am Bahnsteig der U-Bahn-Station Wiener Stadion. Züge, in denen grimmig blickende, schwitzende Fahrgäste geschlichtet sind wie Sardinen in der Dose. Fahrplanverspätungen.

Eine Horrorvision, an die die Verkehrsplaner der Wiener Linien natürlich nicht so gern denken. Technologien könnten helfen, die schlimmsten Drängereien zu verhindern: intelligente Kamerasysteme, die über den Köpfen der Fahrgäste in den U-Bahn-Stationen installiert werden, wenn es nach den Systementwicklern von Smart Systems, einem Geschäftsbereich der Austrian Research Centers, geht. Gemeinsam mit Arsenal Research bietet man den Wiener Linien diese Lösung an.

Klingt überzeugend: Die „Smart Cameras“ zählen die Fahrgäste, die auf den nächsten Zug warten – und senden, wenn eine bestimmte Zahl überschritten ist, ein Signal an einen Zugangsschranken vor dem Abgang zur U-Bahn. Der Zugang wird vorübergehend gesperrt. Das System hört auf das schicke Akronym Ucos („universal counting sensor“). Leser, die an dieser Stelle befürchten, von einer weiteren Kamera im öffentlichen Raum beobachtet zu werden, will Teamleiter Martin Litzenberger von Smart Systems beruhigen. Ucos erkenne nur Umrisse von sich bewegenden Objekten, sagt er. „Mehr ist für unsere Zwecke nicht nötig.“

Dreidimensionale Konturen

Vorbild sei eine „Teilfunktion“ der menschlichen Retina, so Litzenberger, die „Bewegungsdetektion“. Zwei Kameras nehmen Bilder auf, aus beiden Bildern wird über einen hinter den Kameras liegenden Chip die Tiefe berechnet, wodurch ein dreidimensionales Bild der menschlichen Konturen entsteht. Ucos ist, so Litzenberger, auch stark lichtempfindlich. Die Qualität der Bilder und Zählungen sei bei Dunkelheit und Helligkeit gleichwertig. Die Technologie geht auf Carver Mead zurück. Der 1934 geborene Informatikprofessor aus Bakersfield in Kalifornien wird als „Vater der bioinspirierten Elektronik“ bezeichnet. Er erkannte, dass mithilfe der Schaltkreise von Computerprozessoren auch Schaltungen gebaut werden können, die wie Neuronen funktionieren. Mead entwickelte die erste Siliziumretina. Seither werden immer komplexere Systeme gebaut, die dem Nervensystem nachempfunden sind.

Ein Netzhautimplantat ist heute keine Seltenheit mehr. Verschiedene Forschergruppen glauben, in Zukunft mit dieser Basistechnologie auch verlorengegangene Gehirnfunktionen wieder zurückzugewinnen.

In der Industrie versucht man, den umgekehrten Weg zu gehen, und baut Funktionen des menschlichen Nervensystems in Maschinen nach – zur Mustererkennung in der Fertigung und eben auch in Überwachungssystemen. Dabei geht der Trend eindeutig in die Richtung, die Analyse und Auswertung der Bilder bereits in der Kamera abzuwickeln und das Ergebnis an ein Sicherheitssystem zu schicken. Immer unbedeutender soll dabei werden, wer etwas macht. Interessant sei nur mehr, was er macht und ob diese Handlung vom Normalfall stark abweicht und daher „gemeldet“ werden müsse, sagen Entwickler.

Datenspeicherungen seien möglich. Aber davon sprechen Techniker selten. Eher von mehr Sicherheit. Die einfache Überlegung: Ein Wachebeamter vor einer Wand mit einer Vielzahl von Bildschirmen kann schon nach kurzer Zeit nicht mehr alle Bilder im Auge behalten. Das intelligente, Ergebnisse auswertende System kann das rund um die Uhr. „Smart Cameras“ werden, weil sie so feinfühlig sind, bereits in der Altenbetreuung eingesetzt.

Die Universität Tübingen zum Beispiel entwickelte ein Kamerasystem namens „Smartsurv“, das testweise in einem Pensionistenheim in Potsdam installiert wurde. Die Intimsphäre sei gewahrt, schwören die Wissenschafter, Smartsurv könne zwischen wichtigen und unwichtigen Ereignissen unterscheiden. (Peter Illetschko/DER STANDARD, Printausgabe, 16.1.2008)