Die Zahl der Jugendlichen, die kriminell werden, steigt von Jahr zu Jahr – zuletzt sogar überdurchschnittlich um 15,3 Prozent. Soll man sich deswegen sorgen? Ja. Soll man sich deswegen fürchten? Nein.

Diese Antwort ist nicht so selbstverständlich, wie sie zunächst klingen mag. Hört man Hessens Ministerpräsident Roland Koch zu, könnte man den Eindruck bekommen, dass in jedem U-Bahn-Waggon, hinter jeder Straßenecke und in jedem Lokal marodierende Jugendbanden harmlose Rentner fertigmachen. Täglich legt CDU-Mann Koch neue Ideen für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts nach, will "die sehr kleine Gruppe der besonders Aggressiven" unter 14-Jährigen so bestrafen wie die Großen. Das hat seinen Grund, denn es ist Wahlkampf in Hessen – doch das interessiert, angesichts der aufgeheizten Debatte, kaum jemanden. Sogar der Spiegel warnte vor jungen Männern, der vermeintlich "gefährlichsten Spezies der Welt".

Es steht zu befürchten, dass die am Montag veröffentlichte österreichweite Kriminalstatistik für das Jahr 2007 einen ähnlichen Effekt haben wird. Auch hier hyperventilieren manche Medien ob der schlechten Nachricht (15,3 Prozent plus bei der Jugendkriminalität), und in einem großen Bundesland stehen Regionalwahlen bevor. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis auch hierzulande Politiker mit scheinbar sorgenzerfurchter Stirn den Zeigefinger heben und mit dem Strafgesetzbuch wacheln. Die ÖVP hat sowieso vor kurzem dem Thema "Sicherheit" alle anderen politischen Themen untergeordnet, und FPÖ und BZÖ waren noch nie berühmt für differenzierende Sichtweisen.

Keine Frage: Wenn steirische Teenager beschließen, eine Frau zu vergewaltigen und zu ermorden, weil sie "einen Menschen sterben sehen wollen", wenn alte Damen in Wien beraubt und schwer verletzt werden, wenn ein Rentner in einer Münchner U-Bahn-Station schwer misshandelt wird – dann hat die Gesellschaft ein großes Problem. Doch dieses ist weder durch schärfere Gesetze noch durch rigorosere Vollziehung derselben zu bewältigen. Die Tatsache, dass die Zahl der gerichtlichen Verurteilungen jugendlicher Straftäter seit Mitte der 80er-Jahre fast konstant geblieben ist, stellt dem österreichischen Rechtssystem eigentlich ein gutes Zeugnis aus. Man setzt mehr auf außergerichtliche Wiedergutmachung und soziale Wiedereingliederung als auf Wegsperren. Das sollte auch so bleiben – denn die steigende Kriminalität sollte zwar Anlass zur Sorge, aber keinesfalls zur Panik sein.

Politiker aller Couleurs sollten nur einen Schluss ziehen: Der Jugend muss geholfen werden. Sie braucht Ausbildung, Arbeit, Zukunft und einen Weg aus den Wohnghettos der Städte. Und sie braucht Eltern, die sich um sie kümmern (können), weil die Wirtschaft, bei allem Konkurrenzdruck, begreift, wie wichtig die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die gesamte Volkswirtschaft ist. Soziale Vernachlässigung von Kindern ist kein schichtspezifisches Problem: Auch an Schulen in Wiens nobleren Bezirken gibt es Probleme mit minderjährigen Handydieben und jugendlichen Messerträgern.

Allerdings ist der Ruf nach Law and Order in solchen Fällen weit weniger laut als in jenen, wo Migranten- oder überhaupt "Ausländer"-Kinder involviert sind. Da wird schnell einmal nach „Abschiebung“ noch vor Anklageerhebung gerufen – in Österreich wie in Deutschland. Dass marodierende Neonazis nicht minder gefährlich sind, wird gerne vergessen.

Vielleicht täte in all der momentanen Aufgeregtheit ein Blick nach Spanien gut: Auch dort nimmt die Gewalt unter Jugendlichen zu. Vor kurzem haben 24 minderjährige Burschen und Mädchen eine 43-jährige Frau nach einem Wortwechsel krankenhausreif geschlagen. Doch statt nach schärferen Gesetzen zu rufen debattiert die Nation über bessere Resozialisierung. Denn, so schrieb die Frankfurter Allgemeine in einer Analyse: "Mit dem Thema Jugendkriminalität sind in Spanien keine Wahlen zu gewinnen." Welch wohltuende Abwechslung. (Petra Stuiber/DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2008)