Auf Herkunftsspuren: Joachim Meyerhoff.

Foto: Werner
Wien - Der im deutschen Sprachraum völlig einzigartige Charakterschauspieler Joachim Meyerhoff betreibt zurzeit eine verblüffende Form der Wurzelforschung. Er erzählt - in loser, die Chronologie durcheinanderwirbelnder Folge - seine Jugend nach.

Er liest dazu im Vestibül des Wiener Burgtheaters aus einem Manuskriptpaket. Meyerhoff trägt dazu einen engen, grauen Konzipientenpullover. Er nimmt auf einem kotzgrünen Fauteuil Platz und erzählt Blatt für Blatt, ganz ohne Virtuosenmätzchen und fast ohne Darstellungsverrenkungen, einen Neurosenbildungs- und Entwicklungsroman, der offenbar an den Kern der Meyerhoff'schen Kunst rührt.

Dieser schlaksige, schütterhaarige Mann, den in seinen Rollengestaltungen zumeist eine irritierende Unrast umtreibt und der dabei ein lächelndes Einverständnis mit allen Erscheinungsformen des Wahnsinns zu bekunden scheint, ist der heiterste Jähzornkünstler, der sich denken lässt.

Meyerhoff, der in seiner Jugend "Zuhause in der Psychiatrie" war (so der diesmalige Untertitel seiner autobiografischen Selbstermittlung), skizziert sein Einverständnis mit der Welt der Nervenkranken. Die Kindheitsstadt Schleswig nahe der dänischen Grenze - ein einziges Mekka der Kliniken, Kasernen und Verwahranstalten. Die väterliche Chefarztvilla - der Mittelpunkt eines in konzentrischen Kreisen angeordneten Psychiatriebetriebes, zu dessen Schutzbefohlenen der jüngste von drei Arztsöhnen ein völlig ungescheutes Naheverhältnis entwickelt.

Meyerhoffs Erinnerungen an die Denkwürdigkeiten und Marotten hilfloser Nervenkranker kommen, obzwar sie maßlos erheitern, ohne jede Besserwisserei aus. Das von Neugier getriebene Eintauchen in eine Welt der Schreckens- wie der Entzückungsschreie (wer wüsste den Unterschied zweifelsfrei zu benennen?) eröffnet den Blick auf eine unverzichtbare Lebensbildungsanstalt. Meyerhoff erzählt von der enthusiastischen Gier der Patienten nach Weihnachtsgeschenken, die im Aufwallen der festlichen Vorfreude von den maßlos erregten Empfängern zerstört werden.

Er berichtet von Krippenspielen mit geistig abnormen Rechtsbrechern, von einem "Glöckner", der mit wild schlagenden Klöppeln über das Anstaltsgelände rast - Klein-Joachim, in die Mähne des Manikers gekrallt, auf den Schultern. Selten macht Meyerhoff den Gebrauch von Requisiten. Dieser Schauspieler ist vielmehr ein Meister des Antäuschens, vielleicht auch ein Lügenbaron: ein Illusionist und Vortäuschungsartist.

Aber er taucht die berückendsten Ungeheuerlicheiten in das gleichmäßig milde Licht seiner Stimme - und bereichert die Wiener Theaterszene um wunderbare, süchtig machende Erlebnisminiaturen, die obendrein auf die Entdeckung eines veritablen Autors hoffen lassen. (Ronald Pohl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.1.2008)