David Schalko: "Die Tatsache, dass sie ihre Gesichter nicht vor ihm verbargen, beunruhigte ihn. Der Kleine befahl ihm, den Rucksack zu öffnen. Als er die Konservendosen sah, musste er lachen. Dann deutete er auf eine andere Tür, die offensichtlich in den Keller führte."

Foto: Heribert Corn
Zu viel Proviant auf seinem Rücken. Aber das Rauschen des Waldes gab ihm Rückenwind. Untertags hatte er sich im Laub vergraben. Nachts war er gelaufen. Durch halb Europa. Das gefühlte Europa.

Unter dem warmen Laub hatte er an seine Großmutter gedacht. Er hatte sie alleine begraben. Bei einer 102-jährigen Frau konnte man nicht mehr mit vielen Trauergästen rechnen. Sie hatte alle überlebt. Ehemann, Kinder, Freunde und drei Systeme. Am Ende konnte sie nicht mehr sprechen. Schlaganfall, vermutete der 60-jährige Dorfarzt, dessen Mutter sie auch schon von Geburt an kannte. Nur ein Wort war ihr geblieben. Und das wiederholte sie immer dann, wenn es etwas zu sagen gab. Es lautete: "Aha." Wenn sie Hunger hatte, wenn sie wollte, dass er den Kanal für sie wechselte, wenn er ihr etwas erzählte, wenn sie ihn auf etwas aufmerksam machte: "Aha."

Allerdings gab sie dem Wort niemals die Farbe des Staunens, der abschließenden Feststellung oder der aufgeregten Entlarvung. Schier farblos monoton kam es aus ihrem Mund. Ganz ohne Melodie und wahrscheinlich auch ohne Sinn.

Wenn sie die Blumen im Garten betrachtete: "Aha."

Wenn er ihr aus der Zeitung vorlas: "Aha."

Wenn sie morgens die Augen öffnete: "Aha."

Wenn er sie anzog: "Aha."

Wenn er sie wusch: "Aha."

Wenn er sie durch das Dorf schob: "Aha."

Wenn eine Passantin mit ihnen plauderte: "Aha."

Als eine Frau bei ihnen einzog: "Aha."

Als sie nach kurzer Zeit wieder auszog: "Aha."

Selbst für den Papst, als er den jährlichen "Urbi et orbi"-Segen spendete, bei dem sie früher gottesfürchtig vor dem Fernseher gekniet war, hatte sie nur noch ein trockenes "Aha" übrig.

Oft hatte er sich gefragt, warum ausgerechnet dieses Wort übrigblieb. War es ihr Fazit des Lebens. Ein gleichgültiges Aha. Ein stoisches. Ein erleuchtetes. Ein trauriges. Ein abwartendes. Ein resignierendes.

"Aha."

Er konnte es nicht deuten. Wahrscheinlich, weil es nichts zu deuten gab. Als sie im Garten in den Himmel starrte, um kurze Zeit später leblos zusammenzusacken, sprach sie ein letztes Aha, das sich durch nichts von den anderen Ahas unterschied.

Persönliche Exerzitien Nachdem er seine Großmutter beerdigt hatte, ging er zurück ins Haus. Er suchte sich eine wetterfeste Garnitur, nahm seinen Rucksack und füllte ihn mit Proviant. Davon gab es reichlich im Haus. Großmutter unterhielt bis zu ihrem Tod den nuklearsicheren Bunker, den Großvater in den 60ern erbauen ließ. Er hatte Zeit seines Lebens über die gebunkerten Lebensmittel pedantisch Inventur gehalten. "Man kann nie wissen", hatte er gesagt. Das sagte er auch, wenn er zur Kirche ging oder sich weigerte, ein altes Kleidungsstück zu entsorgen.

Nach seinem Tod tauschte sie die abgelaufenen Konserven regelmäßig aus und hielt den Bunker in Schuss. Wahrscheinlich ihm zuliebe. Vielleicht tat sie aber auch einfach die Dinge, die sie immer tat, weiter, weil es sonst nichts zu tun gab. Weiterhin führten sie jedes Quartal die Übungen durch. Genau so, wie es die längst in Konkurs gegangene Firma empfohlen hatte. Bis vor zwei Jahren, dann konnte Großmutter den Gang in den Keller nicht mehr absolvieren. Ab diesem Moment nötigte sie ihn mit einem Aha, sich alleine eine Nacht in dem ABC-sicheren Hausschutzraum einzubunkern.

Auf bizarre Weise hatte er diese Nächte genossen. Sie waren so etwas wie seine persönlichen Exerzitien. Er stellte sich vor, wie die ganze Welt da draußen im Aschenregen lag. Völlig still. Und seltsam friedlich. Niemand glaubte mehr an den Kalten Krieg. Nicht einmal die Großmutter. Großvater hatte ihm einmal erzählt, dass der amerikanische Zombiemythos seinen Ursprung in den Überlebenden Hiroshimas fand, weil diese wie Zombies wimmernd durch die zerstörte Stadt wandelten. Die meisten Nachbarn hatten sich damals ABC-sichere Hausschutzräume zugelegt. "Man kann nie wissen." Wobei aber selbst der Großvater seine Zweifel hatte, ob man darin wirklich einen nuklearen Anschlag überleben würde. Heute waren die meisten zu Speisekammern umfunktioniert. Oder zu Hobbyräumen, in denen auch die Pflanzen überwintert wurden. Nur die drei Meter dicken Betonwände und die mächtige Schleuse, die sich wie ein sicheres Grab hinter einem schloss, erinnerten an die Zeiten des Kalten Krieges.

Noch sieben Konservendosen klimperten in seinem Rucksack. Das Geräusch hielt ihn wach und gab den Rhythmus seines Laufschritts vor. Wie hypnotisiert wich er den Bäumen aus. Nein, er glaubte an kein Paradies im Westen. Schließlich fing der Westen dieser Tage schon ziemlich weit im Osten an. Er wollte nur weg. Ein neues Leben beginnen. Und zwar dort, wo ihn seine Erschöpfung zum endgültigen Haltmachen zwang. Er fand, das wäre ein gutes Prinzip für Heimat. Schließlich hatte Heimat immer mehr mit Ende als mit Anfang zu tun. Zumindest dort, wo er herkam.

"Halt!"

Er beschleunigte seine Schritte, da er an einen Befehl seiner inneren Stimme glaubte. Die hatte die letzten Stunden nur noch gekeucht. Und meldete sich jetzt resignierend zu Wort.

"Halt!"

Sie hatte etwas blechern Aggressives. Viel zu hoch für seine eigene.

"Halt!"

Er drehte sich um, ohne stehenzubleiben. Zwei Männer liefen hinter ihm her. Er konnte sie kaum erkennen. Außer, dass sie das Gleiche trugen. Uniformierte! Er lief. Die Konserven trommelten in seinen Rücken. Sie schmerzten wie die Sporen eines panischen Reiters und duldeten keinen anderen Gedanken als "Lauf!".

Als der Schuss fiel, stolperte er über eine Wurzel und blieb keuchend liegen. Die Konserven fühlten sich an wie ein Stiefel, der ihn zu Boden drückte. Hinter seinem erschöpften Keuchen hörte er die dumpfen Laufschritte der beiden Männer näherkommen. Er verstand nicht, was sie sagten. Nur das Wort "Halt!" hatten sie in seiner Landessprache gerufen. Wahrscheinlich das einzige Wort, das ihnen geläufig war. Das einzige, was blieb.

Dann ein Stiefel, der auf die Konserven trat, die sich noch tiefer in seinen Rücken bohrten. Sie redeten auf ihn ein, und als er aufstehen wollte, drückten sie ihn wieder zu Boden. Die Stimme des Jüngeren erinnerte ihn an das Fisteln von Joe Pesci in Casino. Daraus schloss er, dass der andere der Chef war.

Joe war klein und drahtig. Sein kahlrasierter Kopf erschien in unangemessenem Abstand vor dem seinen und starrte ihm ins Gesicht. Er schien zufrieden mit seinem Fang. Der andere, ein unrasierter Bär mit schiefer Krankenhausbrille, zog ihn hoch. Sie trugen keine Uniformen, zumindest keine offiziellen, aber dafür die gleichen Mäntel. Sie wirkten wie Mitglieder des gleichen Vereins, der aber offensichtlich nur aus den beiden bestand. Das beruhigte ihn. Die Jagdgewehre, die beide um die Schulter trugen, hoben dieses Gefühl wieder auf. Unmissverständlich befahl ihm der Joe-Pesci-Typ, sich umzudrehen. Er dachte an die Fahrigkeit seines Vaters, wenn er das Insulin falsch dosiert hatte. Mutter hatte darin die lebenslangen Ehekrisen vermutet. Als sie starb, wurde er ruhig.

Es roch nach Hund

Der Große verband ihm die Augen und drückte ihn wenig später auf die Rückbank eines Autos. Es roch nach Hund. Und die Bank war durchgesessen. Wie viele von seiner Sorte waren schon auf dieser gelandet? Und was war mit ihnen passiert? Er versuchte, sich an Gerüchen zu orientieren. Doch der Gestank des Hundes übertünchte alles. Der Weg war zuerst holprig. Dann befuhren sie eine Landstraße, auf der ihnen insgesamt vier Autos entgegenkamen. Sie mussten fünf Orte durchquert haben, da der Fahrer genauso oft die Geschwindigkeit für mehr als eine Minute drosselte. Wenn er gewusst hätte, wo er sich bei der Festnahme befand, hätte er seinen Aufenthaltsort identifizieren können.

Während der Fahrt wurde nicht gesprochen. Um keine Indizien zu geben. Das hatten sie sich vermutlich aus irgendeinem Agentenfilm abgeschaut. Nach wenigen Minuten hielt der Kleine das Schweigen nicht mehr aus und drehte das Radio an. Einlullende Volksmusikschlager. Der Große summte mit. Der Kleine setzte ein. Er versuchte, sich das Musikprogramm zu merken. Aber es klang alles gleich in seinen Ohren.

Er löste die Augenbinde

Als der Motor erleichtert abstarb, zog ihn der Kleine unsanft ins Freie. Er löste die Augenbinde. Ein kleines Haus, wie es auch dort, wo er herkam, stehen hätte können. Er fühlte sich, als wäre er im Kreis gelaufen. Rundherum andere Häuser im gleichen Stil. In keinem brannte Licht. Kurz vor Sonnenaufgang. Er war erschöpft. Joe schob ihn durch die Eingangstür. Im Vorzimmer hingen mehrere Geweihe. Der Bär sah ihn an, als würde er ihn demnächst persönlich danebenhängen.

Etwas scharrte an der Tür. Die beiden lächelten sich an. Und in einem Satz öffnete Joe die Tür. Ein großer Schäferhund stürmte aufgeregt in das winzige Vorzimmer. Er wedelte mit dem Schwanz und begrüßte die Heimkehrer. Er bellte und schmiegte sich aufgekratzt an deren Beine, um gehörig Streicheleinheiten zu kassieren. Sie ignorierten ihn, also umkreiste der Hund den Unbekannten. Als er sich runterbeugen wollte, um den Hund zu berühren, stieß ihn der Bär zurück. Er murmelte etwas. Dann packte er mit der Rechten sein Gesicht. Er deutete ihm, den Mund zu öffnen, was dieser auch tat. Zufrieden begutachtete er seine Zähne.

Die Tatsache, dass sie ihre Gesichter nicht vor ihm verbargen, beunruhigte ihn. Der Kleine befahl ihm, den Rucksack zu öffnen. Als er die Konservendosen sah, musste er lachen. Dann deutete er auf eine andere Tür, die offensichtlich in den Keller führte. Als sich die Betonschleuse des ABC-sicheren Hausschutzraumes hinter ihm schloss, sagte er: "Aha." (David Schalko)