Boston - Es war zweifellos das wichtigste Ereignis des späten Pleistozäns: Vor mehr als 100.000 Jahren verließen die ersten Angehörigen unserer Spezies den afrikanischen Kontinent, und Homo sapiens startete seine beispiellose Erfolgsgeschichte.

In den folgenden Jahrtausenden verbreitete sich dieser moderne Mensch über Asien und Europa und erreichte sogar Australien und Amerika. Die Besiedlung unterschiedlichster Lebensräume gelang verblüffend schnell und erfolgte überall da, wo er etwas zu essen fand.

Aber vielerorts war er nicht der Erste. Große Teile der Alten Welt wurden damals bereits von anderen Urmenschen bewohnt. In Europa und Westasien lebten Neandertaler, während Süd- und Ostasien Populationen von Homo erectus und/oder Homo heidelbergensis beheimateten. Diese Menschenarten starben später aus.

Viele Experten betrachten dieses Verschwinden als direkte Folge der afrikanischen Einwanderungswelle: Homo sapiens hätte seine biologischen Verwandten demnach verdrängt oder gar ausgerottet. Die besser ausgebildeten Gehirne der Neulinge gewährten ihnen Überlegenheit und Anpassungsfähigkeit. Soweit die gängige Lehrmeinung.

Neue Untersuchungsmethoden bringen nun allerdings bislang unbekannte Details ans Tageslicht, und neue Thesen werden postuliert. Eine faszinierende Debatte dreht sich um die Frage nach der möglichen Vermischung zwischen Homo sapiens und anderen Vertretern der Gattung Homo: Zeugten moderne Menschen mit Ureinwohnern fruchtbare Nachkommen, und leben die Gene von Neandertaler & Co in uns fort?

In der mitochondrialen DNA aus Neandertalerskeletten fand man bis dato keine Hinweise auf Blutsverwandtschaft mit dem heutigen Menschen. Andererseits jedoch lässt das Ergebnis einer mathematischen Analyse der Variabilität moderner menschlicher Gene auf einen Urmenschanteil von mindestens fünf Prozent schließen ("PLoS Genetics", Bd. 2, S. 972). Ein eindeutiger Beweis wird wohl erst dann vorliegen, wenn es gelingt, intakte DNA aus Neandertaler-zellkernen zu isolieren.

Brisante Hypothese

Bezüglich der möglichen Bedeutung einer genetischen Vermischung hat das US-amerikanische Forscherehepaar Sarah Kingan und Daniel Carrigan kürzlich eine brisante Hypothese im Fachblatt Current Anthropology (Bd. 48, S. 895) veröffentlicht. Die beiden an der Harvard University tätigen Evolutionsbiologen vermuten, dass eine Hybridisierung dem sich rapide ausbreitenden Homo sapiens Vorteile brachte. Seine Vorgänger hatten sich nämlich im Verlauf vieler Generationen an ihren Lebensraum angepasst.

Diese Urmenschen verfügten somit über eine genetische Ausstattung, die dem der Neuankömmlinge teilweise überlegen war, bezogen auf die Bedingungen vor Ort. Die Kinder gemischter Paare könnten dann das Beste beider Spezies in sich vereint und so unsere Evolution beschleunigt haben.

Fortpflanzungshindernisse dürfte es laut Kingan und Carrigan kaum gegeben haben. Die ursprüngliche Trennung zwischen den verschiedenen Arten der Gattung Homo erfolgte ihrer Ansicht nach maximal 1,7 Millionen Jahre vor der Wiederbegegnung - zu kurz für die Entstehung einer biologischen Unvereinbarkeit.

Aktuellste Forschungen stellen auch die Neandertaler in ein neues Licht. "Ihr Schädelvolumen war größer als das von modernen Menschen", erklärt Daniel Carrigan gegenüber dem STANDARD. Einige seiner Kollegen stellen nun die These auf, dass Homo sapiens Gene für größere Hirnmasse vom Neandertaler übernommen haben könnte. Dieses Erbgut hätte Selektionsvorteile erbracht und sich deshalb in der prähistorischen menschlichen Bevölkerung verbreitet. Und davon würden wir heute noch profitieren. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12./13. 1. 2008)