Cover: Ammann
Dass die Welt mittlerweile mit sogenannten "Berlinromanen" ausreichend versorgt sein könnte, diese Vermutung mag zehn Jahre nach dem großen Boom der speziell in Berlin-Mitte spielenden Popliteratur nicht ganz neu sein. Kein Wunder nach all den heiter-anekdotischen, schnellen, flippigen, zynischen und mit alten Begriffskopplungsidyllen wie "Subversion durch Affirmation!" Spielchen treibenden Betrachtungen jüngerer Autoren. Meldungen aus dem Herzen des (halb-)akademischen und (viertel-)kreativen Prekariats, wer will da noch durch? Der eilige Leser ist ohnehin längst in die Blogs von Rainald Goetz oder Joachim Lottmann abgewandert. Das aufreibende Leben zwischen Clubbing und Bürogemeinschaft, zwischen Vernissage und Kinoretrospektive, zwischen Caffè Latte und dem letzten Konzert von The Fall, es tendiert bezüglich seiner Alleinstellungsmerkmale und des Interesses dafür mittlerweile gegen null. Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, dass jetzt mit Ulrich Peltzer ein 1956 eigentlich viel zu früh geborener Autor in Teil der Lösung , seinem neuen Roman, endlich einen gelasseneren wie ungleich präziseren Zugang zu diesem leidlichen Thema findet.

Zwar vertraut auch Peltzer, der studierte Psychologe, auf altbekannte Ausgangssituationen und stellt in den Mittelpunkt seiner Geschichte eine nicht wahnsinnig neugierig machende Liebesgeschichte. Nele, eine junge und politisch dem folgenlosen Situationismus in einer kleinen linken Splittergruppe im Brackwasser weitaus radikalerer Altvorderer huldigende Literaturstudentin (der Romantitel ist dem berühmten Zitat des RAF-Terroristen Holger Meins entlehnt), reibt sich an Christian. Ein laut Klischee prekärer Journalist aus dem Kunstumfeld. Der "genießt" das weitgehend sinnfreie, aber belastende Leben ohne feste Wohnung, dafür aber mit sehr wenig Geld und viel Alkohol in der Metropole keinesfalls. Aber es muss halt gehn.

Schließlich ist Christian im alltäglichen Überlebenskampf spätestens mit Mitte 30 über Ausstellungsrezensionen und geschmierten Restauranttipps etwas zynisch und visionslos geworden. Neben diese am Ende offenen Ausgangs bleibende, laut dem Berliner Liedermacher Funny van Dannen unter "Herzscheiße" laufende, moderne Pärchenlüge stellt Peltzer allerdings dann auch die Stadt. Deren Überwachung mit Videokameras und das Private im öffentlichen Raum, positioniert in einem ungewohnten und sich atemberaubend zu lesenden, wir ahnen es, größeren Zusammenhang.

Konformistische Erregung

Die vom gelangweilten Staatsschutz feinsäuberlich registrierten und bald auch wegen des Drangs zur eigenen Legitimierung über V-Männer entschieden geförderten, letztlich statisch nichtssagend bleibenden "politischen" Aktionen Neles und ihrer Freunde, diese folgenlose, der Jugend verpflichtete, konformistische Erregung in Sachen aktionistischer Kasperleklamauk im halböffentlichen Raum, etwa im Sony Center am Potsdamer Platz, ruft also die Exekutive auf den Plan.

Nichts von Neles geheimen "politischen" Aktivitäten ahnend, bemüht sich Christian parallel dazu, die Geschichte von sich in den 70er-Jahren nach Frankreich geflüchtet habenden Mitgliedern der italienischen Brigate Rosse anhand von Interviews journalistisch zu verwerten. Das scheint nicht einmal die Betroffenen selbst zu interessieren. Am Ende irren beide ziel- und planlos durch Paris. Nele erfährt, dass ihre Gruppe in Berlin aufgeflogen ist, will flüchten. Christian sucht sie – bis sie ihn findet. Suchen, überwachen – aus dem Bild laufen lassen. Weltbeobachtung als im gehetzten Stakkatostil geschilderte Fahrt über Großstadt-Images, gebrochen durch theoretische Diskurshäppchen aus der Küche von Foucault oder Deleuze. Gewagt? Gelungen! (Christian Schachinger, ALBUM/DER STANDARD, 11./12.01.2008)