Ton Koopman im Gespräch über Bach, die Krise am CD-Markt und die ewige Sympathie für die Vergangenheit.
Wien – Die Gegenwart, sie ist nur ein Sofa, auf dem man sich niederlässt, um lesend in die Vergangenheit abzutauchen. Kaum ein Satz von Ton Koopman jedenfalls, den er nicht um die Formulierung "dazu gibt es ein interessantes Buch" ergänzt; kaum ein Komponistenname nach Robert Schumann, zu dem er nicht meint, dieser würde ihn bestenfalls privat interessieren oder eigentlich gar nicht. Dem niederländischen Dirigenten, Organisten und Cembalisten ist das allerdings gar nicht peinlich. Für so ein Gefühl reicht auch die Zeit nicht – die weit zurückliegende Historie ist ihm zu wichtig, als dass er sich von ihr durch irgendetwas, sei es auch die Gegenwart, ablenken lassen würde.
Neue Ausgabe
An die 25.000 Bücher hätte er gelesen, hat er einmal gesagt, doch "gibt es viel zu viele, die ich nicht kenne. Ich kaufe viel, sammle und nehme auch auf Tourneen viel mit. Ich mache gerade eine Edition von Händels Messias und habe einen Schüler, der dazu Untersuchungen anstellt. Ich kontrolliere das dann, auch wenn ich unterwegs bin – im Bus ist das natürlich nicht so leicht mit den vielen Fotokopien."
Man wolle in der Ausgabe keine neue Fassung erstellen, vielmehr "machen wir eine Ausgabe, in der die drei wesentlichen Fassungen enthalten sind und diese mit verschiedenen Farben markiert werden." Paradoxerweise hat ihn sein rückwärtsgewandtes Interesse zu einem jener Musiker gemacht, denen man, wie Nikolaus Harnoncourt, in der Gegenwart einen wichtigen Platz eingeräumt hat, da er Altes durch Quellenforschung anders klingen lässt.
Kein Wunder, dass Koopman lange Jahre seine Erkenntnisse auch auf Tonträgern veröffentlichen konnte – bei Erato und Teldec. Als die Krise der Industrie vor einigen Jahren ausbrach, war Koopman plötzlich jedoch mitten in einer unschönen Gegenwart; mitten in der Einspielungsphase aller Bach-Kantaten stieg sein zum Multi Warner gehörendes Label aus.
"Mit einem Fax hat man mir alles Gute für meine weitere Karriere gewünscht und lapidar festgestellt, dass man aus dem Projekt aussteige. Sie sagten, sie hätten kein Geld. Aber sie hatten einfach keinen Mut. So hatte ich halt den Mut. Ich ging zur Bank, nahm einen Kredit und fand auch einen Vertrieb. Auf meinem Haus liegt immer noch eine Hypothek. Zwei Drittel der Summe sind aber wieder zurückbezahlt, noch drei Jahre – dann bin ich wieder auf Null!"
Erst im Nachhinein habe er verstanden, "wie herrlich es war, als eine Firma einfach Geld gab. Ich bekam von Erato eine halbe Million Euro pro Jahr und konnte entscheiden. Wir haben zwar diskutiert, aber im Grunde waren wir nur schön essen, es war alles locker und einfach."
Gut verkauft
Denn natürlich ging das Geschäft auch gut: "Von der Matthäuspassion haben wir weltweit doch 250.000 Stück verkauft, vom Mozart-Requiem 200.000. Womöglich war es früher auch zu einfach, zu angenehm – man ist jetzt eben Kulturunternehmer." Und das bedeutet: Risiko nehmen, Sponsoren suchen und Projekte durchziehen, während der Sponsor noch nicht zugesagt hat. "Ich muss viel mit Leuten reden, finde das schön, aber als Musiker bin ich besser. Ich bin auch viel als Gastdirigent unterwegs. Dann gehen die Gagen auch in die Projekte."
Das mit den Gastdirigaten ist interessant. Es gab ja Zeiten, da standen sich die Lager (hie Originalklangbewegung, da etablierter Betrieb) eher unfreundlich gegenüber. "Die Zeugen-Jehovas-Zeit ist Gott sei Dank vorbei! Also jene Zeit, als man zu uns sagte: ,Die haben zwar Ideen, aber keine Technik.‘" Die Lager hätten sich angenähert, findet Koopman und nein, seiner eigenen Ästhetik würde er nicht untreu, wenn er vor ein "normales" Orchester trete.
Wenig Vibrato