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Die Fenster von leer stehenden Geschäften und Häusern im Stadtteil Kensington wurden bunt dekoriert: Einstimmung aufs Liverpooler Kulturhauptstadtjahr.

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"Liverpool – The Musical" mit Ringo Starr, Dave Stuart und Echo and The Bunnymen. Was wäre die Industriestadt ohne die Beatles?

Isolation kann Vorteile haben. Im Falle der Kulturhauptstadt Liverpool hat sie zur Folge, dass die meisten Besucher mit dem Flugzeug anreisen werden. Wer in Liverpool landet, weiß gleich, welche Helden diese Stadt hat: Der Flughafen ist nach dem ermordeten Ex-Beatle John Lennon benannt, sein Slogan Lennons berühmtem Lied Imagine entlehnt: "Above us only sky" (Über uns nichts als der Himmel).

Die Anreise mit dem Zug aus dem Süden des Landes wird hingegen schnell zum Hindernis-Parcours. Weil die halbstaatliche Schienenverwaltungsgesellschaft Network Rail seit Jahren an der Beseitigung eines Nadelöhrs bastelt, werden aus planmäßigen zweieinhalb Stunden plötzlich vier oder fünf Stunden – in dieser Zeit sind Londoner per Eurostar beinahe schon in Frankfurt oder Lyon.

Mag sein, dass die Hindernisse manchem Snob jetzt als Vorwand dienen, der Kulturhauptstadt die kalte Schulter zu zeigen. Schade – die Liverpool-Verächter verpassen das großartige Panorama, das sich bei der Fahrt über die Mersey-Brücke bei Runcorn entfaltet; die behagliche Schaukelei durch die Kleinbürgerviertel im Süden, wo die Beatles aufwuchsen; schließlich die Fahrt durch einen düsteren Tunnel und zur Endstation der Linie, dem Bahnhof an der Lime Street.

Am schönsten bleibt natürlich die Annäherung an die Stadt von der See her. Auf diese Weise bekommt man das architektonische Ensemble am Hafenrand zu sehen, das erst kürzlich von der Unesco zum Welterbe erklärt wurde. Es gruppiert sich um die Museumsmeile Albert Docks sowie um drei Prachtgebäude vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die ironischerweise als "drei Grazien" bekannt sind – Stein- und Stahlkolosse, die damals den unglaublichen Reichtum der nach London zweitwichtigsten Hafenstadt des britischen Empire symbolisierten.

Eine riesige Baustelle

Das Lebensgefühl in Liverpool, schreibt der Musik-Experte Paul du Noyer in einer kritischen Liebeserklärung an seine Heimatstadt (Liverpool – wondrous place), sei das einer Insel: "Die Stadt blickt übers Meer nach draußen und hat England den Rücken gekehrt."

Eines der spannendsten Projekte des Kulturhauptstadtjahres, Cities on the Edge (Städte am Rand), soll Künstler, Wissenschaftler und Bürger aus sechs europäischen Hafenstädten zusammenbringen, darunter aus Stavanger, der zweiten Kulturhauptstadt. Zum Sextett gehören auch Marseille, Neapel und Danzig. Alle diese Städte haben tiefgreifende Strukturkrisen erlebt, aber so tief wie in Liverpool ging die Talfahrt nicht.

Noch in den 60er-Jahren lebte hier mehr als eine Million Menschen, heute sind knapp 500.000 übrig. Im Krieg durch deutsche Bomben zerstört, später im Würgegriff von Beton-süchtigen Stadtplanern und trotzkistischer Kommunalregierung, kam die Stadt nicht richtig auf die Beine. In den 80ern gehörte Merseyside um Liverpool zu den ärmsten EU-Regionen. Strukturhilfen aus Brüssel und der britische Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre brachten die Wende. Den Besuchern im Kulturjahr präsentiert sich die Stadt als Baustelle.

Dem Selbstbewusstsein der Einheimischen konnte die Strukturkrise ohnehin nichts anhaben. Die Liverpooler, nach ihrem näselnden Dialekt auch "Scousers" genannt, sind sich selbst genug. In ihrer Welt spielt niemand so gut Fußball wie die Vereine Liverpool und Everton; gibt es nirgendwo bessere Nachtclubs oder leichter bekleidete Frauen; redet keiner so viel und so schnell wie ein echter Scouser oder macht bessere Witze. Hier wird ahnungslosen Besuchern nachts im Pub das wenig originelle Wortspiel des Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung als profunde Wahrheit verkauft: Liverpool sei der "pool of life". Dabei geht der Ortsname auf das Mittelhochenglische Liuerpul zurück, was soviel heißt wie schlammiger Pfuhl.

Als solcher wird die Stadt am Mersey im Rest des Landes meist wahrgenommen. Scousers haben keine gute Presse in den nationalen Medien, die allesamt in London konzentriert sind. Sie spiegeln das Misstrauen des englischen Establishments gegen die stark von katholischen Einwanderern aus Irland geprägte Stadt wider – "eine stolze, angeberische keltische Stadt mit großen Ambitionen", wie es der lokale Autor Ronnie Hughes ausdrückt.

"Hauptstadt des Pop"

Eine vergnügungssüchtige, musikalische Stadt: Zur offiziellen Eröffnung des Kultur-Jahres gibt es am kommenden Wochenende die Uraufführung von Liverpool – das Musical. Ex-Beatle Ringo Starr und Dave Stewart von den Eurythmics führen das Ensemble an. Im Juni spielt der zweite überlebende Ex-Beatle Sir Paul McCartney im Anfield-Stadion, im September bringt ein anderer berühmter Scouser, Sir Simon Rattle, die Berliner Philharmoniker in seine Heimatstadt. Liverpool lebe dafür, sich zu amüsieren, schreibt du Noyer: "Aber vor allem anderen lebt es für die Musik."

Die "Welthauptstadt des Pop" (Eigenlob) bietet Beatles-Fans Pilgerfahrten zu Cavern Club und Strawberry Fields; jüngere Musikliebhaber kommen in den Nachtclubs auf ihre Kosten. Im Lauf des Jahres glänzt aber auch das Everyman-Theater mit Neuinszenierungen: Gleich in diesem Monat steht eine moderne Version von Tschechows Drei Schwestern auf dem Programm, die nach Kriegsende in Liverpools jüdischer Gemeinde angesiedelt ist.

Wer genug hat von Musik, Kunst und Konversation, sollte mit der Lokalbahn hinausfahren nach Norden. Gleich jenseits der Stadtgrenze lädt ein kilometerlanger Sandstrand zum Spaziergang ein – auch ein Kulturerlebnis, das zu Liverpool gehört. (Sebastian Borgeraus Liverpool, DER STANDARD/Printausgabe, 08./09.01.2007)