Kunstrasen kann natürlich mehr als diese Badematte. Er kann aber auch mehr als Naturrasen, behaupten Forscher.

Foto: Karner; Illustration: Fatih
Dank intensiver Materialforschung hält das pflegeleichte Grasimitat auch im Spitzensport Einzug - und macht das Ballestern berechenbarer und wetterunabhängiger.

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Manchmal ist er blau, meistens aber grün - grasgrün. So wie es die Regularien des Weltfußballverbandes FIFA vorschreiben. Es gibt ihn in der gekräuselten oder in der aufrechten Version, mehrfasrig oder einfasrig. Die Halme sind mindestens 40, maximal 60 Millimeter lang - und werden niemals welk. Im Moskauer Lushniki-Stadion riecht er dank eines ausgeklügelten Duftsystems sogar nach echtem Gras. "Wer nicht ganz genau hinschaut, wird modernen Kunstrasen kaum von seinem natürlichen Vorbild unterscheiden können", sagt Bernd Wutzer, Vertriebsleiter von Polytan, einem der weltweit größten Kunstrasenhersteller aus Burgheim in Deutschland.

Nach Jahren der Entwicklungsarbeit und zahlreichen Verbesserungen ist der flexible Spielbelag nun immer stärker im Kommen. Selbst FIFA-Chef Joseph Blatter höchstpersönlich outete sich bereits als Fan des robusten Grüns. Sein Entschluss stehe fest: Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika solle ausschließlich auf Kunstrasen gespielt werden. 2007 erreichte die verlegte Kunstrasenfläche allein in Deutschland zweistellige Zuwachsraten, berichtet Polytan-Vertreter Wutzer. Auch die anderen Kunstrasenriesen wie die belgische Desso DLW Sports Systems, Edel Gras BV aus Holland und der kanadische Kunstrasenhersteller Fieldturf melden, dass die Nachfrage steigt. In Österreich erfolgte der Umstieg sogar schon in der höchsten Liga: Im neuen Stadion von Red Bull Salzburg ist Polytans Spitzenprodukt Ligaturf bereits seit 2005 ausgerollt. Und auch die Stadt Wien rüstet derzeit auf: Elf neue Kunstrasenplätze sollen bis August 2008 entstehen.

Kunstrasen war allerdings nicht immer so gefragt wie heute. "Wir hatten mit allerhand Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen", sagt Wutzer und erinnert sich an die Entwicklung des ersten Kunstrasens für Fußball: Hart, nicht elastisch, nicht wasserdurchlässig - und vor allem bei den Spielern extrem unbeliebt sei ihr 1975 vom Feldhockey importierter Belag gewesen. "Die Gelenke gingen kaputt, der Ball war zu schnell", sagt Dieter Hoeneß, Manager des Berliner Erstligisten Hertha BSC. Tatsächlich waren bei Halmlängen von nur 15 Millimetern Verbrennungen der Haut und Abschürfungen bei jeder Ballgrätsche an der Tagesordnung.

Die jüngste Kunstrasenvariante hingegen ist ein Hightechprodukt: Der Belag besteht aus weichen, grasartigen Polyethylenfasern, die mit einer Sand- und Gummigranulateinstreuung aufgefüllt werden. Eine mehrschichtige elastische Spezialunterlage unter den künstlichen Rasenstücken schont die Gelenke beim Laufen und Springen.

Akribische Tests

Wie gut der Kunstrasen federt, wird mit dem sogenannten Berliner Athleten geprüft. Diese dreibeinige, einem Stativ ähnelnde Apparatur lässt aus verschiedenen Höhen ein 20-Kilogramm-Gewicht auf den Kunstrasen fallen. Beim Aufprall messen Sensoren, wie viel Kraft der Belag absorbiert. Maßstab ist dabei der Naturrasen, der laut FIFA-Regel mindestens sechzig Prozent des Aufpralls dämpfen muss. "Kunstrasen erreicht bis zu achtzig Prozent Absorption - unabhängig von den Wetterbedingungen", sagt Wutzer. Akribisch wird auch das Roll- und Sprungverhalten des Balles untersucht. Aus zwei Metern Höhe fallengelassen, muss er mindestens 60 und darf höchstens 85 Zentimeter vom Boden hochspringen.

Erfüllt der Kunstrasen alle Auflagen, erhält er das höchste Prüfsiegel "FIFA Recommended Two Star", das die FIFA für Spitzenbegegnungen vorschreibt. Spielerbefragungen durch die Uefa ergaben, dass sich Kunstrasen sogar positiv auswirkt, weil der Ball besser und vor allem überall mit gleichbleibender Qualität rollt und springt.

Damit sich der Ball in sämtlichen Stadien der Welt identisch verhält, hat Polytan die FIFA-zwei-Sterne-Version in zwölf Varianten für unterschiedliche klimatische Bedingungen im Programm. Materialwissenschafter passen die Zusammensetzung der Gummigranulatmischungen so an, dass sie bei minus zehn Grad Celsius genauso gut ihren Dienst erfüllen wie bei plus 35 Grad.

Trotz der strengen Vorschriften befürchten viele Profifußballer, dass die Verletzungsgefahr auf dem Kunsterzeugnis erheblich höher als auf Naturrasen ist. Solche Einwände blockt Wutzer ab: Heute würden unabhängige Forschungslabore wie etwa Labosport im französischen Le Mans oder das Institut für Biomechanik der Polytechnischen Universität im spanischen Valencia für hohen Komfort und gleichbleibende Qualität garantieren. Selbst die Hersteller von Fußballschuhen arbeiteten mit Kunstrasenherstellern zusammen, um die passenden Stollen für einen rutschfesten Stand beim Torschuss zu entwickeln.

Die Furcht vor kunstrasenbedingten Verletzungen sei unbegründet, sagt auch Lars Bretscher, FIFA-Fachmann für Kunstrasen. Verbrennungen gebe es nicht mehr, denn die Halme seien silikonbeschichtet und extrem weich. Bei starker Trockenheit werde der Belag zudem leicht befeuchtet.

Solche Qualität hat allerdings ihren Preis: Mit bis zu 600.000 Euro belastet die Anschaffung eines Kunstrasenplatzes in Spitzenqualität die Vereinskasse. Vor allem in modernen Fußballarenen mache sich der pflegeleichte Einsatz aber schnell bezahlt, denn die steilen Tribünen und großflächigen Dachkonstruktionen nähmen echtem Gras Licht und Luft zum Wachsen, argumentiert Polytan-Vertriebsleiter Wutzer.

Ganz ohne Pflege geht es nicht: Einmal in der Woche sollte der Platz gebürstet werden, damit sich das Gummigranulat gleichmäßig verteilt. Zudem muss das ausgewaschene Granulat nach starkem Regen nachgefüllt werden. (Denis Dilba/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.1. 2008)