Genau bei dieser scheinbar leichten Strauß-Kost geht es ja nicht einfach um geregelten Walzerablauf. Erst durch die Kommunikation zwischen Orchester und motivierendem dirigentischem Kunstwillen gelingt es, das alljährlich um bis dato ungespielte Miniaturen angereicherte ewig gleiche Sammelsurium von melodischen Eingebungen auf eine Ebene zu heben, was dann hoffentlich gestaltete Besonderheit in Erinnerung belässt.
Georges Prêtre, mit 83 Jahren recht spät zu Neujahrsehren gekommen, die er für die Apotheose seiner Dirigentenlaufbahn hält, ist zweifellos ein Musikorganisator, der ausreichend Esprit und exzentrisches Flair besitzt, um dem Dreivierteltakt mehr als nur solides Leben einzuhauchen. Seine Kunst des scheinbaren Nichtstuns ist dabei eine Form der Beschränkung auf das Wesentliche, auch wenn sie den Maestro mitunter wie einen expressiven Maler erscheinen lässt. Gerne modelliert er Linie nach, gerne wirft er die Gipfelnote einer Phrase ins Orchester und nimmt sich Zeit, Musik ins Theatralische zu übersetzen. Musik geht bei ihm durch den ganzen Körper; und mitunter ist es schwer, zu sagen, aus welcher Körperecke das Zeichen kommen wird. Energie fehlt
Nun muss auch so jemand einen guten Tag erwischen, um ein Versprechen vollends einzulösen, und leider - so ein Tag war es nicht. Ob die öffentlichen und sonstigen Proben schon zu viel an Energie absorbiert hatten - mitunter kam die Sache diesmal da und dort unerwartet zum Stillstand.
Da musste man schon fünf Stücke lang warten, bis es dann erstmals wirklich zündete, als Prêtre bei der Orpheus-Quadrille die Philharmoniker rasen ließ. Dass ihm die schnellen Werke am vorzüglichsten gelangen, wäre jedoch eine ungerechte Aussage. Es war dies in Summe vielmehr eines der poetischeren, sanfteren Neujahrskonzerte der letzten Jahre, eines, bei dem jederzeit Transparenz herrschte, alles durchhörbar und schlank blieb (Indigo-Ouvertüre) und der philharmonische Klang besonders dort sinnstiftend und strukturerhellend aufblühte, wo das Walzerselige quasi symphonische Gestalt annahm - wie beim delikat modellierten Kaiser-Walzer oder auch beim Donauwalzer.
Der Hang zur Poesie, das Auskosten langsamer Momente und das Heranführen von Stellen an Bereiche der Faststille bedarf allerdings als Ausgleich einer plötzlichen Attacke, einer sinnvollen Beschleunigung, um diese elastischen musikalischen Gebilde lebendig werden zu lassen. In diesem Punkt blieb Prêtre mitunter einiges schuldig, und so klang es bisweilen ein bisschen schal, herrschte nur schöner Stillstand (Donauschwalben aus Österreich).
Es sind natürlich auch manche Werke von bestenfalls solider Qualität. Wenn Prêtre sie tempomäßig herausfordert, offenbart sich denn auch der Mangel an Substanz erst recht, alles zerfließt in Belanglosigkeit (Die Pariserin und Die Bajadere). Dann wieder das Gegenteil: extrem delikates Zu-Ende-Führen des Russischen Marsches, wundersam Sanftes (Die Libelle) und Esprit (Chineser Galopp), der zeigt, dass Prêtre zwar nichts unbedingt Neues aus Werken herausholt, aber auch an der Oberfläche zu Tiefsinn findet.
In Summe ein Konzert mit Höhen und auch Tiefen. Ein Konzert, in dem der Scherzfaktor vor allem durch die pantomimischen Qualitäten des Dirigenten garantiert war. Erst bei der Zugabe - Sport-Polka - packten die Philharmoniker in froher Erwartung der Fußball-EM patriotische Schals aus, während der Maestro mit Ball und gelber wie roter Karte spielte. Eine Neuheit gab es dann doch: Ein Tanzpärchen erschien zum Finale des Donauwalzers und schwebte Richtung Bühne.