Die bisherige Debatte (siehe ältere Beiträge in diesem Ressort, Anm.) ist charakteristisch: Sofern es überhaupt um das Wirtschaftsystem als Ganzes geht, pendeln die Positionen hin und her zwischen pro Marktwirtschaft und contra Marktwirtschaft.

Neoliberale wie Sozialisten sind sich dabei näher, als sie annehmen. Sie unterstellen gemeinsam, der Markt sei eine Naturerscheinung. Dabei wollen die einen die Wildnis des Marktes unter Naturschutz stellen (Guido Hülsmann), während die anderen fordern, sie trockenzulegen (Jörg Huffschmid).

Kulturprodukt

Ich vertrete eine andere Sichtweise: Die kapitalistische Marktwirtschaft selbst ist ein hochartifizielles Kulturprodukt. So würden beispielsweise die angeblich deregulierten Finanzmärkte von einer Sekunde zur anderen wie ein Kartenhaus einstürzen, wenn ihnen die staatlich geschaffenen Existenzvorausetzungen – vom Kapitalgesellschaftsrecht bis zur Börsenaufsicht – entzogen würden. Ich schlage deshalb vor, über die Marktregulation hinauszugehen und die Architektur der Märkte in den Mittelpunkt zu stellen.

Die andere Blickrichtung, die ich vorschlage, lässt sich am Beitrag von Martin Zagler erläutern: Er fordert, exzessive Kapitalrenditen besonders zu besteuern. Richtig, ich würde sogar noch weitergehen und eine Erbschaftsteuer und Vermögenssteuer mit einem Grenzsteuersatz von 100 Prozent vorschlagen. Aber solche Korrekturen der Folgen des Kapitalismus sind genauso unzulänglich wie nachgeschaltete Filter bei Kohle- oder Atomkraftwerken. Notwendig ist es, die Existenz und Entstehungsvoraussetzungen der großen Kapital- und Vermögenskonzentrationen zu beseitigen.

Wie soll das möglich sein? Mit Hilfe des freien Marktes! Ist das nicht paradox, denn der Markt ist doch gerade das Problem? Ja, natürlich haben wir eine Marktwirtschaft, aber es handelt sich um ein halbautoritäres Marktsystem. Der ordoliberale Ökonom Walter Eucken hat nachgewiesen: Eine tatsächlich freie Marktwirtschaft ("die Wettbewerbsordnung") unterscheidet sich von der oligopolistischen Marktwirtschaft nicht weniger als von der Planwirtschaft. Gleiche und freie Tauschverhältnisse in der Wirtschaft zu erreichen, das muss genauso erkämpft werden wie das gleiche, freie Wahlrecht in der Politik.

Konzerne sind privilegiert

Beides sind sich ergänzende Abstimmungs- und Entscheidungsverfahren, die in ihrem Geltungsbereich (Wirtschaft / Politik) auf der gleich großen Entscheidungsfreiheit aller Beteiligten gründen. Was wir heute in der Wirtschaft haben, ist eine Art Mehrklassenwahlrecht: Konzerne sind gegenüber einfachen Marktteilnehmern mehrfach privilegiert, indem sie – z. B. mit Haftungsbeschränkung und Unternehmensverflechtungen – das Abstimmungsergebnis auf den Märkten manipulieren und zugleich Einfluss auf die Politik nehmen können, um die Spielregeln auf dem Markt zu ihrem Vorteil zu ändern.

Das Mehrklassenwahlrecht auf den Märkten durch eine egalitäre Marktwirtschaft zu ersetzen, erfordert z. B., das Aktiengesellschafts- und Konzernrecht sowie das Patent- und Markenrecht abzuschaffen; denn sie ermöglichen die Existenz weniger Kapitalkonzentrationen aufgrund der Diskriminierung aller anderen Marktteilnehmer. An ihre Stelle müssten neue Rechtsinstitutionen einer machtminimierten Marktwirtschaft treten.

"Peer to Peer"-Ökonomie

Einige Beispiele: Als Ersatz für die Unternehmensrechtsform der Aktiengesellschaft käme die der Mikrokapitalgesellschaft in Frage (Kapital könnte so nicht mehr als Beherrschungsinstrument, dafür aber umso besser als Finanzierungsinstrument von Millionen kleinerer Unternehmen eingesetzt werden. Die Patentmonopole könnten durch ein öffentliches Lizenzsystem für "Intellectual Property" ersetzt werden. Rechtssicherheit für Machtminimierung könnte ein von allen Betroffenen einklagbares Grundrecht auf Marktfreiheit bewirken (z. B. könnten so Biobauern aus Bayern wie äthiopische Bauern wirksam gegen Marktdumping durch EU-Subventionen vorgehen).

Das Steuerungsprinzip einer solchen "Peer to Peer"-Ökonomie ist bei den meisten linken Globalisierungskritikern wie bei den Konzernchefs besonderst verhasst, nämlich der Leistungswettbewerb. Das Folgende zeigt: Er ist ein wertvolles Zivilisierungsinstrument, weil er alle Formen der Konkurrenz verhindert, die nicht auf einem Wettbewerb um die freie Leistungsbewertung der Konsumenten beruhen.

Revolutionärer Systemwechsel

Heute wird bereits durch das allgemeine Straf- und Zivilrecht in den entwickelten Demokratien weitgehend verhindert, dass ein Wettbewerb um unmittelbare physische Überlegenheit stattfinden kann. Die "Wettbewerbsordnung" einer tatsächlich "freien Marktwirtschaft" entwickelt den Zivilisationsprozess weiter. Sie könnte diejenigen destruktiven Formen des Wettbewerbs verhindern, auf denen der Oligopolismus beruht: Heute ist für den Unternehmenserfolg entscheidend, so effektiv wie möglich die Spielregeln des Marktes manipulieren zu können – durch größtmögliche Einflussnahme auf den Gesetzgebungsprozess und durch Erwerb von Marktmacht. Maßgeblich für den Erfolg im ungleichen Wettbewerb ist auch der legale Diebstahl des ökologischen Eigentums der Menschheit. Müssten – im Sinne einer egalitären Marktwirtschaft – alle Unternehmen für ihren Beitrag zur Klimaveränderung haften, dann gingen von Shell über General Motors bis Airbus mehr als die Hälfte der Weltkonzerne in den Konkurs – weil ihre Leistungsbilanz seit vielen Jahrzehnten in Wirklichkeit negativ ist.

Doch über einen solchen revolutionären Systemwechsel zu einer dezentralisierten Marktökonomie wird bisher nur wenig nachgedacht. Ein Grund dafür ist, dass der Leistungswettbewerb als "genialstes Entmachtungsinstrument" (Franz Böhm) von Kapitalismuskritikern ignoriert und bekämpft wird, weil er angeblich "Profit über alles" stellt. Doch das ist genau falsch: Je effektiver der Wettbewerb funktioniert, umso geringer ist der Profit.

Im "vollständigen Wettbewerb" tendiert der Profit gegen Null. Deshalb fürchten die Konzerne nichts mehr als tatsächlichen Wettbewerb. Das wusste um 1848 auch schon die Avantgarde der Arbeiterbewegung (Zeitschrift "Die Verbrüderung" in Deutschland und "L'Atelier" in Frankreich), als sie für eine marktwirtschaftliche Ökonomie selbstverwalteter Unternehmen kämpfte. Eine Internationale der Mikrokapitalisten könnte diese liberale wie sozialistische Tradition des Antimonopolismus wiederentdecken und das Ende des Oligopolkapitalismus einleiten.