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Schloss zu, Schlüssel weg. Trotz dieses Symbols mit endgültigem Charakter ist in Litauen die Scheidungsrate besonders hoch.

Fröhliches Besteckgeklapper im Keller des Stiklu alude, einem typisch litauischen Bierrestaurant im Zentrum von Vilnius. Plötzlich fällt der Reisegruppe auf: Keine Männer da. Nur Frauen, die sich an Gerichten laben, die etwa Cepelinai heißen - Kartoffelknödel, die mit Speck gefüllt sind und die ovale Form des namensgebenden Zeppelins haben. Oder an warmen Pilzgerichten mit Rahm, die in kleinen Schälchen serviert werden.

Die Männer heben inzwischen ihr Svyturys-Bier oben an der Bar. Von Zeit zu Zeit dringt Gebrüll, ja begeistertes Gejaule herunter. Dort bei der Schank hängt ein südkoreanischer Flachbildschirm.

Laute Ballsaison

An diesem Abend spielt das litauische Basketball-Nationalteam. Eine konkurrenzlose Abendveranstaltung, sind doch alle Litauer, und ganz besonders die Männer, Basketball-Fans. Wenn dann das Team gewinnt (und die Chance ist gut, denn die litauischen Basketballer sind stark), liegt die Innenstadt von Vilnius im Taumel. Aus tausend Tröten wird aus Wohnungs- und Autofenstern gelärmt; die litauische Hymne lauthals gesungen, die gelb-grün-rote Fahne geschwenkt.

Die Litauer feiern gerne - davon zeugen die vielen Restaurants und Beiseln in der Innenstadt. Davon zeugt auch das alternative Uzupis-Viertel, ganz in der Nähe der Altstadt, aber am anderen Ufer des Flusses Neris gelegen. Über einige Brücken, gleich bei der russisch-orthodoxen Muttergotteskirche, spaziert man in die "Republik", wie das Uzupis-Viertel von seinen Bewohnern genannt wird. Es ist dies der Montmartre von Vilnius, bloß leben und arbeiten hier im Gegensatz zum Pariser Vorbild tatsächlich noch viele Künstler - eine ganze Reihe von Ateliers und deren Ausstellungen machen den Stadtteil äußerst lebendig.

Selbst der Gang über eine einfache Brücke dorthin kann zum Erlebnis werden. Am Geländer hängen unzählige Vorhangschlösser: Zeichen der unverbrüchlichen Liebe, die gerade in Litauen nicht so unverbrüchlich ist. Die Menschen heiraten hier nämlich gerne - und lassen sich auch häufig wieder scheiden, wovon die im Vergleich zu anderen EU-Staaten hohe Scheidungsrate zeugt. Vielleicht gerade deswegen wird hier ein alter Hochzeitsbrauch noch ausgiebiger zelebriert als im übrigen Europa: Der Bräutigam trägt die Braut über die Brücke, danach wird das Schloss an der Brücke festgemacht. Und der Schlüssel in den Fluss geworfen.

Bereit für Vergangenes

Vilnius bereitet sich jetzt schon auf das Jahr 2009 vor, wenn die Stadt zusammen mit Linz europäische Kulturhauptstadt ist. Eines der ambitionierten Programme, an denen bereits gearbeitet wird, lautet "The Art of Cold War".

Auch heute ist die Erinnerung an die Sowjetzeit noch wach. Dafür sorgt das ganz in der Nähe der Hauptstraße Gedimino prospektas von Vilnius gelegene KGB-Museum, in dem vieles so belassen wurde, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion vorgefunden wurde: die Zellen und Exekutionsräume im Keller; die Aktenordner als Zeichen der Bespitzelung, die Abhörgeräte und abhörsicheren Telefone für Gespräche mit den Chefs in der KGB-Zentrale in Moskau.

Minutiös wird in dem Museum dem Weg der litauischen Aufständischen, manchmal ganzer Familien nachgegangen, die häufig nach Sibirien verbannt wurden und in den seltensten Fällen wieder zurückkamen. Verständlich, wenn auch etwas unglücklich wurde das Museum Genozid-Museium benannt, obwohl es der fast lückenlosen Ermordung der litauischen Juden während des Zweiten Weltkriegs überhaupt nicht gedenkt.

Der Kollektiv-Event

Ein anderer, jedenfalls augenzwinkernder Zugang zur Sowjetzeit ist eine gute Stunde außerhalb von Vilnus, bei der Kleinstadt Kernave zu besichtigen. Der Franzose Patrick Lion hat sich dort in eine riesige aufgelassene Kolchose eingekauft. Die Insignien des sowjetischen Arbeiterstaats, sonst überall verschwunden, sind dort integraler Bestandteil. In den Maschinenhallen, die jetzt als Eventzentrum dienen, hängen noch die russischsprachigen Parolen über das Übererfüllen von Plänen und die Rolle des fleißigen Arbeiters. Die Schlafkammern sind absichtlich spartanisch gehalten. Nach einer Wanderung oder Jagd in den an Seen reichen Wäldern wird die Gulaschkanone angeworfen.

Lion schwärmt davon, dass er hier Kolchosen-Atmosphäre für die Nachwelt erhalten will. Die Nachwelt: Das sind vor allem Firmengruppen, häufig aus Deutschland oder dem skandinavischen Raum, die dort ihre Betriebsfeiern oder Gruppendynamik-Seminare abhalten können. "Die Menschen wollen nicht nur glatte Umgebung", argumentiert Lion. Eine glatte Stunde nur braucht man dann zurück bis ins die Beiseln von Vilnius, die atmosphärisch mindestens genauso überzeugen. (Johanna Ruzicka/DER STANDARD/Printausgabe/29./30.12.2007)