Homo austriacus, gemütlich und mit dem einen oder anderen Balken im Auge.

Karikatur: Schopf
Während "den Ungarn" die triviale Volkskunde mit allerlei günstigen und ungünstigen Eigenschaften ausstattet – er gilt unter anderem als (in alphabetischer Reihenfolge) barbarisch, hässlich, heimtückisch, höflich, leichtsinnig, ritterlich und romantisch – verfügt "der Österreicher" über ein einziges, international patentiertes Charakteristikum: Er sei, so heißt es, vor allem und fast nur gemütlich. Wie diese Eigenschaft im Einzelnen aussieht, konnte ich bei meinem ersten längeren Wiener Aufenthalt im Mai 1980 beobachten.

Das Schaufenster des Demel widmete damals ein eigenartiges Denkmal der Sternstunde Österreichs: Da standen auf dem Balkon des Belvedere die Außenminister der vier früheren Besatzungsmächte und verkündeten samt Wiener Regierungsmitgliedern die Freiheit der Republik. Die historische Szene hat der Urheber, der mit Sicherheit ein echt gemütlicher Österreicher war, aus Marzipan geformt, sodass mir das Wasser im Mund gleich zusammenlief, und ich wäre nicht einmal davor zurückgeschreckt, den Kopf von Leopold Figl abzubeißen.

Die sprichwörtliche Gemütlichkeit schien "felix Austria" niemals im Stich gelassen zu haben. Nehmen wir nur einen scheinbar durchschnittlichen Donnerstag des Jahres 1938 als Beispiel. Im Rathauskeller tönte Musik der Kapelle Auerbach, die Volksoper lud zur Produktion Gruß und Kuss aus der Wachau ein, in der Komödie lief die Komödie Das Ministerium ist beleidigt, das Opernkino bot das Lustspiel Hoheit flirtet an, das Lichtspieltheater Tuchlauben verwöhnte das Publikum mit der Liebesgeschichte Diese Nacht ist unsere Nacht. Selbst die Hohe Warte versprach heiteres, mildes, gemütliches Wetter mit sechzehn Grad Wärme. Allerdings stellte an diesem Tag der Gauleiter Joseph Bürckel die alles andere als gemütlich gemeinte Frage an "den Österreicher": "Bist du ein Deutscher?" Das überwältigende, gemütliche Ja bei dem darauf folgenden Referendum erwies sich in Anbetracht der Kräfteverhältnisse keineswegs als entscheidend, dennoch trug es zum Schicksal des Landes bis zum Mai 1955 bei.

Als Anfang der 90er-Jahre ein Wiener Journal mit der dicken Schlagzeile Immer größere Polenheere im Anmarsch auf unser Land erschien, sagte mir ein alteingesessener Exilungar: "Jetzt ist es mit der Gemütlichkeit passé." Ohnehin beäugte er angesichts des erstaunlichen Wahlerfolgs der fremdenfeindlichen Partei jeden fünften erwachsenen Passanten auf der Straße argwöhnisch: Will der mich nun auch rausschmeißen? Ich versuchte ihn zu beruhigen: Vielleicht ist nicht der Erfinder dieser Schlagzeile "der Österreicher", sondern vielmehr jener andere, der ihn im November 1956 an der Andauer Brücke mit dem gemütlichen "Grüß Gott" empfing. (György Dalos, DER STANDARD - Printausgabe, 21. Dezember 2007)