Gusenbauer: "Einige sind der Meinung, dass die Türkei die Beitrittsperspektive haben sollte, andere denken, dass die EU damit überfordert ist, so wie Österreich das tut."

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Der Status des Kosovo und die zukünftigen Grenzen der Europäischen Union waren Haupthemen des EU-Gipfels in Brüssel. Kanzler Alfred Gusenbauer sprach darüber und über den Reformvertrag mit Michael Moravec.

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STANDARD: Wie erklären Sie sich die teilweise sehr aggressive Ablehnung des Reformvertrages in Österreich und die gezielte Desinformation?

Gusenbauer: Österreich hat vom EU-Beitritt sehr profitiert und von der Osterweiterung von allen EU-Ländern die größten Vorteile gezogen, das hat erst kürzlich eine Studie des Economist bestätigt...

STANDARD: Umso mehr verwundert die Ablehnung der EU. Was läuft da schief, wieso kann der Reformvertrag nicht richtig erklärt werden?

Gusenbauer: Es wird die Aufgabe aller Regierungsmitglieder und aller unserer Abgeordneten sein, ab sofort bis zur Ratifizierung durch das Parlament zu den Menschen hinauszugehen und den Reformvertrag zu vermitteln, die Fortschritte, die er bringt, zu erklären.

STANDARD: Ist das nicht zu spät?

Gusenbauer: Zum einen steht die endgültige Fassung des Reformvertrages ja erst seit Oktober fest, und es hätte davor wenig Sinn gemacht, etwas zu erklären, das bis dahin Gegenstand von Verhandlungen war. Die für Österreich wichtigen Punkte wurden aber immer kommuniziert.

STANDARD: Auf Druck des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy wurde das Wort „Beitritt“ im Zusammenhang mit der Türkei aus den Schlussfolgerungen entfernt. Deutschland und Österreich haben sich klar gegen einen Beitritt der Türken ausgesprochen. Wie sinnvoll sind da noch Beitrittsverhandlungen?

Gusenbauer: Ich habe den Eindruck, dass es in der Diskussion um einen Beitritt der Türkei zu viele Illusionen gibt, so als wenn dieser knapp vor der Tür stehen würde. Die Wahrheit ist, dass niemand davon ausgeht, dass die Verhandlungen innerhalb der nächsten zehn Jahre abgeschlossen werden. Darüber hinaus haben wir von österreichischer Seite immer argumentiert, dass die EU für die Türkei nicht reif ist und die Türkei nicht reif für die EU. Daher sollte man nachdenken, ob es nicht auch andere Möglichkeiten der Kooperation und Partnerschaft gibt. Und die Verhandlungen müssen ja nicht notwendigerweise in einen Beitritt münden. Und in Österreich wurde klargestellt – darüber gibt es einen Konsens im Parlament –, dass über einen Beitritt der Türkei, sollte sich diese Frage je stellen, eine Volksabstimmung stattzufinden hat. Ich empfinde es als beruhigend, dass mittlerweile in der EU so viel Realitätssinn vorhanden ist, dass unsere Haltung nun auch von einigen anderen Staaten geteilt wird.

STANDARD: Die Türkei muss sich allerdings ziemlich verhöhnt fühlen, wenn einerseits Beitrittsverhandlungen geführt werden und gleichzeitig führende Vertreter von EU-Staaten betonen, ein Beitritt komme nicht infrage. Die Türkei hat einstimmig den Kandidatenstatus bekommen. Dieser Status verbrieft das Recht, der EU als Vollmitglied beizutreten, wenn alle Aufnahmekriterien erfüllt sind. Sollte man der Türkei nicht einmal mitteilen, dass das nach Meinung einiger Staaten so nicht mehr gilt?

Gusenbauer: Darüber herrscht leider keine Einigkeit. Einige sind der Meinung, dass die Türkei die Beitrittsperspektive haben sollte, andere denken, dass die EU damit überfordert ist, so wie Österreich das tut.

STANDARD: Ein Weisenrat soll nun über die Zukunft und die Grenzen der EU beraten. Wo liegen für Sie die Grenzen der Union? Die Ukraine liegt im Gegensatz zur Türkei vollständig in Europa. Gibt es da bessere Beitrittsperspektiven?

Gusenbauer: Ich halte es für gefährlich, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sagen: Hier liegt die Grenze Europas. Wir müssen die Grenzen der Europäischen Union politisch begreifen. Was heute als Grenze empfunden wird, muss in 20 oder 30 Jahren nicht mehr Grenze sein. Die EU ist ein politisches Projekt, das in erster Linie Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Prosperität sicherstellen soll. Heute festzulegen, wo die Grenzen liegen, halte ich für falsch.

STANDARD: Hauptthema des EU-Gipfels ist das Kosovo-Problem. Wie reagiert Österreich bei einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung?

Gusenbauer: Uns wird eine gewisse Balkan-Expertise zugemessen. Viele Länder schauen darauf, was Österreich macht. Deswegen sind wir uns der speziellen Verantwortung bewusst, die wir haben. Der UNO-Sicherheitsrat wird sich jetzt mit der Frage beschäftigen, vermutlich aber zu keiner Lösung kommen.

Danach gilt es vor allem, die Stabilität aufrechtzuerhalten und auf das zu setzen, was UNO-Beauftragter Martii Ahtisaari vorgeschlagen hat. Das bedeutet, dass nicht nur der Status des Kosovo wichtig ist, sondern vor allem, in welchem Umfeld das alles stattfindet. Der Ahtisaari-Report beinhaltet ja über Seiten Verpflichtungen für den Kosovo wie etwa Sicherheitsgarantien für die serbische Minderheit.

STANDARD: Österreich ist derzeit mit 565 Frauen und Männern im UNO-Einsatz im Kosovo vertreten. Die EU plant auch eine zivile Mission, um den Aufbau zu unterstützten. Das wurde von Serbien vor einigen Tagen als „unerwünscht“ bezeichnet. Ist Österreich dennoch bereit, sein Engagement im Kosovo noch auszuweiten?

Gusenbauer: Österreich gehört zu denen, die am meisten engagiert sind, und unsere Leute leisten dort ausgezeichnete Arbeit. Selbstverständlich sind wir bereit, im zivilen Bereich, etwa beim Aufbau der Justiz, unseren Beitrag zu leisten. In welchem Ausmaß das sein wird, muss noch verhandelt werden.

STANDARD: Das große EU-Thema der kommenden Wochen und Monate ist die Lastverteilung des EU-Klimaziels auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Dabei zeichnet sich eine gleichmäßige Belastung der einzelnen Staaten ab, unabhängig von dem, was sie bereits geleistet haben.

Demnach würde Österreich bis 2020 mehr als 40 Prozent CO2 einsparen müssen. Österreich hat aber eine Studie nach Brüssel übermittelt, aus der hervorgeht, dass realistischerweise nur noch fünf Prozent möglich sind. Geht Österreich damit in die Verhandlungen?

Gusenbauer: Österreich wird seinen Beitrag leisten. Aber einerseits müssen wir das Ergebnis von Bali abwarten, und andererseits ist mir wichtig, dass Österreich, was die ökologische Qualität betrifft, auf einem weitaus höheren Niveau ist, als die meisten anderen Staaten. Dennoch haben wir uns hohe Kiotoziele vorgenommen, die wir zugegebenermaßen auch erst erreichen müssen. Andere Staaten haben sich viel niedrigere Ziele gesteckt. Es wird also die gesamte ökologische Qualität zu bewerten sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2007)