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Armut, mangelnde Infrastruktur und Ausbildung beflügeln die Landflucht und das damit verbundene Elend in den Großstädten.

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Sie heißen Tata, Reliance, Bajaj oder ICICI und sind die gefeierten Börsenstars Indiens. Geworben wird mit den Marken der Industrie- und Bankgiganten nicht nur auf Hochhausfassaden und überdimensionalen Plakatständern, sondern auch auf den Wänden der Blech- und Lehmhütten in den Slums der Großstädte am Subkontinent.

Der Boom der Wirtschaft und an der Mumbaier Aktienbörse – am Donnerstag erreichte der Leitindex Sensex nach einer Verdoppelung der Kurse binnen 17 Monaten einen neuen Rekordstand – geht freilich hartnäckig an den Armutsschichten vorbei. Während die gelisteten Gesellschaften gerade einen Marktwert von 1700 Milliarden Dollar erreicht haben, müssen 270 Millionen Inder mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Verdoppelt man auf zwei Dollar, sind es sogar 80 Prozent der Bevölkerung, die davon den Unterhalt bestreiten.

"Ungleichheit steigt"

Von der Aktienhausse profitieren übrigens nur vier Prozent der Inder – das ist der Anteil der Wertpapierbesitzer an der Gesamtbevölkerung, erklärt der Chef der Börse Mumbai, Rajnikant Patel, im Gespräch mit österreichischen Journalisten. Und die große Zahl internationaler Investoren, die lange Zeit mehr Geld in die Börse als in die Realwirtschaft pumpte.

"Die Ungleichheit nimmt ständig zu. Seit die Liberalisierungswelle in Indien eingeleitet wurde, geht es einem Viertel der Bevölkerung besser, drei Vierteln schlechter", analysiert Nalini Rajan, Leiterin des Asian College of Journalism in Chennai (früher Madras). Sie bemängelt den Rückzug des Staates auf allen Ebenen.

Die hohen Ansprüche der Regierung stünden im eklatanten Widerspruch zur Realität, meint die Expertin. De facto seien öffentliche Ausgaben im Gesundheits- und Bildungswesen sukzessive reduziert worden, beispielsweise bei Schulen und Universitäten von sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den 60er-Jahren auf heute 3,5 Prozent.

Auf dem Land würden die Söhne zur Ernährung der Familie im frühen Alter arbeiten geschickt, die Mädchen müssten sich um die Geschwister kümmern. Überdies mangele es an Ausbildungspersonal: "Dass zwei Lehrer fünf Klassen gleichzeitig unterrichten, ist keine Seltenheit", sagt Rajan. Der indische Universitätsprofessor Kamal Mitra Chenoy bestätigt: "Ein Kind, das zehn Rupien (17 Euro-Cent) am Tag verdient, ist mehr wert als die Schulausbildung. Da denkt man kurzfristig." Zudem seien die Lehrer ohnehin meist nicht da, weil sie ihr eigenes Feld bearbeiten.

Bauern vor dem Abgrund

Tenor der Experten innerhalb und außerhalb Indiens: Solange der ländliche Raum nicht vom Aufschwung erfasst werde, hielten der Zustrom der Bevölkerung in die Städte und das dorthin verlagerte Elend an. Professorin Rajan sieht kaum Entwicklungen in die richtige Richtung. Die Landwirtschaft werde zusehends weg von der Subsistenzwirtschaft hin zum Anbau von Pflanzen, die nicht der Ernährung (z.B. Baumwolle) dienen, getrimmt.

Durch die teilweise Öffnung des Marktes und den damit verbundenen Konkurrenzdruck stehen die Bauern dann rasch vor dem Abgrund, in den sie sich auch stürzen. Selbstmorde von verschuldeten Landwirten, die ihre Kredite nicht mehr begleichen können, gehören zum Alltag. "Es existieren Schätzungen, wonach sich in den letzten Jahren 112.000 Bauern umgebracht haben", erläutert Chenoy. Nicht, ohne zuvor von den meist privaten Geldverleihern, die Wucherzinsen verlangen, tatkräftig schikaniert worden zu sein.

Zweifel an IT-Wunder

Die Kreditgeber sind übrigens meist auch die größten Landbesitzer oder Abnehmer in der Region, die sich dann den Grund einverleiben. Das wörtlich gemeinte Bauernsterben werde von der Öffentlichkeit dennoch kaum wahrgenommen, berichtet der Chefredakteur der zweitgrößten englischsprachigen Zeitung des Landes The Hindu (Auflage: 1,3 Millionen), N. Ram. Die Ungleichheit sowie die Mängel in der Infrastruktur lassen viele daran zweifeln, dass der aktuelle Wirtschaftsboom nachhaltig sein kann.

Selbst das gepriesene IT-Wunder wird von manchen Experten hinterfragt. Derzeit sind 0,3 Prozent der Inder Absolventen einer technischen Universität. Und von ihnen sind laut ein er Untersuchung nur zehn bis 15 Prozent für Jobs im IT-Sektor qualifiziert. (Andreas Schnauder aus Mumbai, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16.12.2007)