Marcel Schüpbachs über Carla del Ponte: "Ihr Leben war die Jagd nach den Verbrechern."

Foto: privat
Der Schweizer Filmemacher Marcel Schüpbach begleitete die Chefanklägerin Carla Del Ponte für einen Dokumentarfilm mehrere Monate mit der Kamera. András Szigetvari sagte er, warum Gerechtigkeit niemals vollkommen sein kann.

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STANDARD: Warum haben Sie ausgerechnet einen Film über Carla Del Ponte gemacht?

Schüpbach: Die Idee war nicht, einen Film über Carla Del Ponte zu machen. Es war 2005, das zehnte Gedenkjahr an das Massaker von Srebrenica. Ich las in vielen Zeitungen Interviews mit Del Ponte, die sagte, sie werde Mladiæ und Karadžiæ bis zum Ende des Jahres in Den Haag anklagen. Also fragte ich mich: Wie wird sie das machen? Und: Wie sieht ihr Job eigentlich aus? Das waren die Ausgangsfragen für den Film. Und natürlich fragte ich mich damals auch, was eigentlich Gerechtigkeit ist.

STANDARD: Haben Sie eine Antwort gefunden?

Schüpbach: Nein, die gibt es nicht. Gerechtigkeit ist etwas von den Menschen entwickeltes, das es in der Natur nicht gibt. Und weil es ein von Menschen entwickeltes Konzept ist, kann Gerechtigkeit niemals perfekt sein. Das ist der Punkt. Weil das Konzept stets bestimmten Interessen – politischen, ökonomischen, sozialen – folgt. Deswegen war die Arbeit von Del Ponte eben so schwierig, weil es von allen Seiten so viel Druck gab.

STANDARD: Ist die Arbeit von Del Ponte einem gerechten Zweck nahegekommen?

Schüpbach: Ja. Das Tribunal versucht, so gut es geht, Gerechtigkeit zu schaffen. Aber sie haben nicht genug Mittel, um diesen Job zu erfüllen. Sie verfügen nicht über eine eigene Polizei, können die Verbrecher nicht selbst festnehmen. Sie müssen jedes Mal mit den Regierungen sprechen. Del Ponte musste also immer Druck ausüben. Wir konnten diesen Prozess rund um die Verhaftung des kroatischen Generals Ante Gotovina gut mitverfolgen. Gotovina wurde nur verhaftet, weil Kroatien der EU näher kommen wollte. Das war ein Deal. Del Ponte wusste nach einem Besuch in Zagreb von den Kroaten bereits, wo er war. Also lieferte sie einen positiven Bericht über die Kooperation mit Kroatien ab. Zwei Monate später wurde Gotovina verhaftet. Das sind die Mechanismen, die der Film aufzeigen will.

STANDARD: War die Arbeit mit Del Ponte einfach?

Schüpbach: Nein, ganz und gar nicht. Sie ist eine außergewöhnlich Persönlichkeit. Sie hat einen sehr harten Charakter. Obwohl sie ja aus dem italienischen Teil der Schweiz kommt, daher eigentlich auch sehr freundlich sein kann. Aber ihr Leben war die Jagd nach den Verbrechern. Das war ihr ganzes Leben. Sie hatte kein Privatleben. Wir konnten immer wieder mit ihr sprechen, aber niemals zu viel. Sie dachte immer an ihre Arbeit, an nichts anders, also schon gar nicht an den Film.

STANDARD: Ist das Jugoslawientribunal unabhängig?

Schüpbach: Wir können von Unabhängigkeit nur träumen denke ich. Das Tribunal wurde vom Sicherheitsrat eingerichtet, in Serbien gilt es als eine rein politische Einrichtung. Gleichzeitig sind die Richter und die Anklägerin natürlich von den Staaten unabhängig. Ich persönlich denke aber, es muss dieses Tribunal geben, auch wenn es nicht perfekt ist. Die Alternative würde bedeuten, dass Generäle und Regierungschefs machen können, was sie wollen. Und dass wir den Opfern nichts geben. Man muss den Opfern den Eindruck vermittelt, dass etwas für die Gerechtigkeit getan wird. Wie wollen Sie, dass es in zehn oder zwanzig Jahren irgendeine Form von Verständnis gibt, wenn das, was passiert ist, niemals aufgearbeitet wird?“ (DER STANDARD, Printausgabe/14.12.2007)