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Ingomar Mutz ist Vorsitzender des Impfausschusses des Obersten Sanitätsrates

Foto: Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ)
derStandard.at: 18 Prozent der Österreicher haben sich in der Saison 2006/2007 gegen Grippe impfen lassen. Ist das genug?

Mutz: Nein, das ist beschämend gering!

derStandard.at: Immer wieder wird eine hohe Durchimpfungsrate in der Bevölkerung propagiert. Kann eine Herdenimmunität durch eine bestimmte Durchimpfungsrate tatsächlich erreicht werden?

Mutz: Wahrscheinlich ist auch bei höherer Durchimpfungsrate keine Herdenimmunität gegen Influenza zu erreichen, weil die verfügbaren Impfstoffe keine dafür ausreichend hohe Schutzrate bieten können. Eine hohe Durchimpfungsrate könnte aber mehr Krankheitsfälle verhindern und ist außerdem für die Verfügbarkeit von Impfstoffen in den Folgejahren beziehungsweise im Falle einer Grippe-Pandemie ganz entscheidend.

derStandard.at: Kann ein Grippeimpfstoff überhaupt wirksam sein, wenn sich das Virus ständig verändert bis es in Europa ankommt und jede Saison neue Viren auftreten? Der Impfstoff muss doch bereits früher produziert werden.

Mutz: Tatsächlich wird der Impfstoff jedes Jahr an die neuen Virusstämme angepasst. Nicht immer passt der jeweilige Impfstoff dann wirklich für die in der Wintersaison krank machenden Virusstämme.

In den meisten Jahren war aber eine ausreichende Übereinstimmung zwischen Impfvirus und Wildvirus in der nächsten Grippe-Saison gegeben. Mit der bald ausreichend zur Verfügung stehenden Zellkulturtechnik zur Virusvermehrung wird sich diese Situation durch eine kürzere Produktionszeit (9 bis 12 Wochen statt 9 Monate) deutlich verbessern lassen.

derStandard.at: Wie hoch stehen die Chancen, trotz Grippeimpfung an Influenza zu erkranken?

Mutz: Das Risiko der Erkrankung trotz Impfung ist abhängig vom Alter zum Zeitpunkt der ersten Impfung (je älter der Impfling desto geringer die Immunantwort); außerdem ist das Risiko nach der erstmaligen Impfung höher (15-30 Prozent ohne ausreichende Immunantwort) und verringert sich mit zunehmender Zahl der jährlichen Impfungen.

derStandard.at: Impfkritiker bemängeln, dass eine Impfung nicht eindeutig vor einer Grippe schützt, sondern im Gegenteil, viele Menschen erst recht krank werden. Was ist Ihre Meinung dazu?

Mutz: Die Impfung gegen Influenza schützt nur gegen Influenza und kann die ähnlich verlaufenden Infektionen der Luftwege durch zahllose andere Viren nicht verhindern. Die Behauptung "erst recht krank werden" ist nicht zutreffend, weil der Totimpfstoff gegen Influenza keine Grippe-Erkrankung verursachen kann.

derStandard.at: Der bekannt kritische Immunologe Tom Jefferson hat in einem Artikel im "British Medical Journal" letzten Jahres Studien über die Wirksamkeit von Grippeimpfungen näher unter die Lupe genommen. Jefferson kam zum Schluss, dass kaum eine Studie fachlich ernst zu nehmen ist. Seiner Meinung nach wäre damit unklar, wofür die Grippeimpfung überhaupt gut sei.

Mutz: Die Darstellungen von T. Jefferson sind einseitig und in der Fachwelt sehr umstritten. Zahllose andere Publikationen belegen den Nutzen der Influenza-Impfung.

derStandard.at: Sind die möglichen Gefahren der Grippeimpfung genügend erforscht?

Mutz: Wie bei allen heutigen Impfstoffen werden die Nebenwirkungen vor der Zulassung ausreichend untersucht und auch nach Verfügbarkeit durch das (gesetzlich vorgeschriebene) Meldesystem von unerwünschten Arzneimittelwirkungen fortlaufend überwacht. Die millionenfache Anwendung hat bisher eine positive Nutzen-Risiko-Abwägung klar ergeben.

derStandard.at: Welche Nebenwirkungen können auftreten und sind nach wie vor krebserregende Stoffe, wie Formaldehyd zu Haltbarkeitszwecken, im Impfstoff enthalten?

Mutz: Nebenwirkungen durch Formaldehyd in Impfstoffen sind bisher nicht festgestellt worden. Die angebliche krebserregende Wirkung von Formaldehyd in Impfstoffen ist eine theoretische Debatte ohne praktische Konsequenzen, weil minimale Formaldehydmengen auch als Zwischenprodukt des normalen Stoffwechsels vorkommen und weil zum Beispiel das Formaldehyd, welches im Tabakrauch enthalten ist, eine wesentlich größere schädigende Wirkung verursacht.

derStandard.at: Angenommen, jemand hat sich gegen die saisonal kursierenden Viren impfen lassen – kann er das Virus trotzdem weitergeben?

Mutz: Wenn ein Impfling keine Immunantwort entwickelt hat – nach der ersten Impfung zirka 15 Prozent (bis 30 Prozent) – kann er das Virus bekommen und natürlich auch weiter geben.

derStandard.at: Wer sollte auf keinen Fall geimpft werden?

Mutz: 1. Akut Kranke sollen die Impfung verschieben, bis sie wieder genesen sind.

2. Personen, welche auf einen solchen Impfstoff in der Vergangenheit schwere Nebenwirkungen erlitten haben, sollen nicht geimpft werden.

3. Schwangere sollten nicht im ersten Schwangerschaftsdrittel geimpft werden, weil eventuell Störungen der Gesundheit des Kindes dann fälschlicherweise der Impfung zugeordnet werden könnten.

4. Bei Personen mit schwerer Immunschwäche - durch Krankheit oder Therapie - einer Krankheit haben Totimpfstoffe (wie Influenza) keine negativen Auswirkungen; es kann aber mit einer verminderten Wirksamkeit gerechnet werden.

derStandard.at: Besonders empfohlen wird die Impfung für Menschen über 60 und chronisch Kranke. Ist die Impfung auch für jüngere, gesunde Menschen oder Kinder empfehlenswert?

Mutz: Die Impfung ist für alle Personen, die sich oder ihre Umgebung schützen wollen, angeraten. Sie ist ab dem vollendeten sechsten Lebensmonat möglich. Die Impfung wird für Personen über 50 Jahre (im Österreichischen Impfplan 2008, in USA schon seit dem Jahr 2000), im Gesundheitssystem tätigen Personen sowie chronisch Kranken besonders empfohlen.

derStandard.at: In der wichtigsten Risikogruppe über 65 Jahren, liegt die Wirkung laut Angaben des amerikanischen Centers for Disease Control nur zwischen 30 und 40 Prozent. Wie kann man das erklären?

Mutz: Das Immunsystem altert (= wird schwächer) nachweisbar schon ab dem 40. bis 50. Lebensjahr. Deshalb ist ja auch die Sterblichkeit an Influenza mit zunehmendem Alter höher. Für ältere Personen gibt es inzwischen wirksamere Impfstoffe mit speziellen Hilfsstoffen (Adjuvantien) zur besonderen Anregung des Immunsystems.

derStandard.at: Glaubt man Statistiken, versterben in Österreich jährlich zwischen 1.000 und 6.000 Menschen an den Folgen der Grippe. Wie genau wird diese Zahl berechnet und warum diese ungenauen Angaben?

Mutz: Die Schätzung erfolgt auf Grund der Sterblichkeitsstatistik (Statistik Austria), welche jedes Jahr einen deutlichen zeitlichen und quantitativen Zusammenhang mit der Grippe-Epidemie zeigt. Da keine Untersuchungs- oder Meldpflicht für Influenza besteht, gibt es keine ausreichend vollständigen Daten über die Erkrankungsfälle an Influenza. Als Todesursache werden mangels virologischer Untersuchungen dann Lungenentzündung und/oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen angegeben.

derStandard.at: An den Impfstoffen verdient die Pharmaindustrie viel Geld. Ist die Warnung vor einer Grippepandemie Panikmache oder sinnvoller Hinweis auf eine tatsächliche Gefahr?

Mutz: Wenn die Pharma-Industrie an Impfstoffen kein Geld verdienen dürfte, gäbe es auch keine Impfstoffe gegen Influenza. Pandemien sind seit fast 500 Jahren immer wieder vorgekommen. Die Gefahr einer Pandemie hat durch das zunehmende Auftreten der Vogelgrippe und deren Übertragung auf den Menschen sicher zugenommen. Niemand kann den genauen Zeitpunkt einer nächsten Pandemie vorhersagen – nächstes Jahr? In 17 Jahren? (Marietta Türk, derStandard.at, 11.12.2007)