Wer ist hier Patient? Ingrid Bergman und Gregory Peck in Alfred Hitchcocks "Spellbound".

Foto: Österreichisches Filmmuseum

Das Gesamtwerk des britischen Meisterregisseurs wird bis Ende Jänner im Österreichischen Filmmuseum in der Wiener Albertina präsentiert.

Wien – "Schockiert es Sie, wenn ich sage, dass der Film enttäuschend sei?" fragt François Truffaut Alfred Hitchcock im berühmten Interviewbuch "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" Es geht um "Spellbound (Ich kämpfe um dich)". Hitchcock drehte den Film 1945, sechs Jahre, nachdem er von London nach Kalifornien gezogen war. Auf Truffauts Frage antwortet er: "Nein, ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich glaube, alles ist einfach zu kompliziert." Schon wechseln die beiden das Thema, um sich über den nach "Spellbound" entstandenen Thriller "Notorious" (1946) zu unterhalten.

Die deutsche Kritikerin Frieda Grafe hatte mehr Esprit, als sie 1971 für die Süddeutsche Zeitung notierte: "Ein Film nach einem wirklich irren Roman, der die Geschichte eines Irren erzählt, der sich eines Irrenhauses bemächtigt". Ganz so irre geht es im Film dann zwar doch nicht zu, bemerkenswert ist "Spellbound" dennoch, und das gleich aus mehreren Gründen.

Zum einen befasst er sich intensiv mit der Psychoanalyse. Die weibliche Hauptfigur ist Analytikerin und arbeitet in einer psychiatrischen Anstalt, die männliche Hauptfigur gibt sich zunächst als ihr neuer Chef aus, wird im weiteren Verlauf des Films aber zu ihrem Patienten. Auf der inhaltlichen Ebene bleibt "Spellbound" aber nicht stehen; vielmehr macht er die spezifische Verfahren der Psychoanalyse zu seinen eigenen. Unbewältigtes aus der Kindheit, Erinnerungsfetzen und Träume setzt Hitchcock konsequent in Szene und sucht daraus Bedeutung zu gewinnen, so wie es der Analytiker mit den Erinnerungsbildern seines Patienten tun würde.

Salvador Dalí hat eine Traumsequenz beigesteuert, die durch ein Arrangement von bedrohlich starrenden Augen eröffnet wird. Da es Zeit seines Lebens eine Leidenschaft Hitchcocks war, Grund- und Urängste der Menschen zu evozieren, nimmt es nicht wunder, dass die starrenden Augen bald von einer Figur mit einer überdimensional großen Schere traktiert werden – in Freuds Welt kommt der Angriff aufs Auge einer Kastration gleich.

Furchen und Streifen

In einer Szene zieht Ingrid Bergman als Psychoanalytikerin Constance Petersen mit einer Gabel auf einem weißen Tischtuch Furchen. Der neben ihr sitzende, vermeintliche neue Leiter der Anstalt, Dr. Edwards (Gregory Peck), reagiert verstört. Als er im Zimmer Petersens eine helle Tagesdecke mit dunklen Streifen gewahrt, reagiert er nicht minder irritiert. Und bevor er ansetzt, die Analytikerin zu küssen, fällt sein Blick auf die feinen Linien ihrer Kostümjacke. Der Kuss bleibt aus, Dr. Edwards sinkt ohnmächtig zu Boden.

Aus den dunklen Streifen auf hellem Grund entwickelt "Spellbound" eine einprägsame Motivkette. Allmählich entpuppt sie sich als Schlüssel zur Identität des von Amnesie Befallenen. Denn in den Linien erkennt der falsche Dr. Edwards die Spuren von Skiern im Schnee, und die wiederum kamen zustande, als der wirkliche Dr. Edwards starb.

Von dieser Erkenntnis ist es nicht mehr weit bis zum Punkt, an dem der falsche Dr. Edwards weiß, wer er in Wirklichkeit ist. Ihren Gipfel erreicht die Motivkette im Furcht erregenden Bild eines Kindes, das auf die spitzen Eisenstäbe eines Zaunes zurutscht, ohne Halt zu finden.

Ein wenig ähnelt dies der "mémoire involontaire", die Marcel Proust in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beschreibt. So wie bei Proust eine Unebenheit im Boden des Pariser Innenhofes den Ich-Erzähler an zwei ungleiche Bodenplatten in der San-Marco-Basilika erinnert und ihn damit nach Venedig zurückversetzt, so überlagern sich bei Hitchcock die Linien im Tischtuch, die gestreifte Tagesdecke, die Kostümjacke und die verhängnisvolle Ski-Abfahrt. Der Fortgang der Zeit wird aufgehoben, da die Abfahrt sich immer wieder als Gegenwart präsentiert, statt zu bleiben, wohin sie gehört: in der Vergangenheit. Was nun bei Proust positive Gefühle auslöst, hat bei Hitchcock eine ganz andere Qualität: die der traumatischen Erfahrung.

Weltkontrolle

Jean-Luc Godard spricht in seinem Filmessay "Histoire(s) du cinéma" davon, dass man einen Film Hitchcocks nicht wegen des Plots im Gedächtnis behalte, sondern wegen der Details und der Objekte: "Man erinnert sich an ein Auto in der Wüste, ein Glas Milch, eine Brille, einen Schlüsselbund, weil mit ihnen und durch sie Hitchcock gelingt, woran Alexander der Große, Julius Cäsar und Napoleon gescheitert sind – Kontrolle über die Welt zu erlangen."

Das ist mindestens in dem Maße schlüssig, in dem Details aus Hitchcocks Werk sich ins Bildgedächtnis eines jeden Einzelnen eingegraben haben wie die Skispuren in den Seelenhaushalt des vermeintlichen Dr. Edwards. Das Messer und der Badewannenabfluss in "Psycho", die gefurchte Tischdecke in "Spellbound", der Pelz in den Händen der gebieterischen Haushälterin in "Rebecca", die Treppen und Treppengeländer mit ihren markanten Schattenwürfen, denen man in so vielen Filmen von Hitchcock begegnet: All dies sucht den Zuschauer noch heim, wenn er die Wendungen des Plots und die Namen der Schauspieler längst vergessen hat.

Und weil die schönste Form der Filmanalyse sich im Medium selbst vollzieht, sei auf die Filminstallation "Phoenix Tapes" (1999) von Christoph Girardet und Matthias Müller verwiesen, die das Wiener Sigmund-Freud-Museum in der Berggasse noch bis zum 2. Februar präsentiert. Sie kümmert sich in assoziativer Montage um die Schlüssel, Scheren, Messer und den Ausguss, um all die Details und Objekte, die bei Hitchcock ihrem obsessiven Eigenleben nachgehen.

"Spellbound" wird am 22.12. und 2.1. im Rahmen der Retrospektive "Alfred Hitchcock – Das Gesamtwerk" gezeigt, die bis Ende Januar im Österreichischen Filmuseum läuft. (Cristina Nord / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6.12.2007)