Sie werden staunen, aber ich habe nicht wenige Bekannte, die sich immer noch nicht festgelegt haben, wen sie wählen werden. Ich hatte nicht erwartet ... Ich dachte, dass ... Kurz, ...: Sie verstehen. Manche wissen nicht einmal, ob sie überhaupt zur Wahl gehen sollten.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Geschichte, die mir die Archivarin der Schweizer Stadt Montreux, Madame Loti, eine Meisterin des schwarzen Humors, erzählt hat: Nach 1917 hätten Massen von Russen das Ufer des Genfersees belagert. Sie hatten nämlich in Erinnerung, dass man dort angenehm leben konnte. Und so sei es auch gewesen - wenn man Geld hatte. Die Flüchtlinge aber, die infolge des Sowjetregimes verarmt waren, seien ziemlich verdrossen gewesen: Krämer hätten mit Vergnügen russische Adelige eingestellt, damit diese den Nachttopf für die Kinder entleerten und diesen gleichzeitig für das gleiche schlechte Geld die guten Petersburger Manieren beibrachten. Ich denke, diese Adeligen bedauerten, dass man die Zeit nicht zurückdrehen konnte: Um wie viel lieber wären sie in der Schlacht mit den Bolschewiken gestorben - als russische Soldaten, und nicht als Lakaien in der Schweiz. Noch stärker quälte sie der Gedanke, dass sie vielleicht sogar gewonnen hätten, wären sie nur zu Hause geblieben ... - So viel nur als kleine Warnung an die Nichtwähler.

Soeben hat mich aber noch jemand anderer ziemlich in Erstaunen versetzt - ein völlig solider und seriöser Mann in gehobener Position, der mir allen Ernstes erklärte, dass er für die Kommunisten stimmen werde. Ob er noch bei Trost sei, entgegnete ich, noch dazu wo er ja Unternehmer sei. "Ich habe nachgerechnet: Wenn ich für eine dritte kleine Partei stimme, so wird sie zwischen den anderen aufgerieben. Um also die alles dominierende Kremlpartei "Einiges Russland" witklich zu verärgern, muss man für die Kommunisten stimmen", erklärte er. Ich gab zu, dass ich es nicht so sehr mit der Mathematik habe und erklärte, dass ich seine Begründung im Übrigen für ziemlichen Nonsens halte. Ich muss ihm aber Gerechtigkeit widerfahren lassen: Der Mann hat wirklich nachgedacht... Wir tranken dann noch ein wenig, und wie mir schien, bekam er allmählich selbst Zweifel. Allzu nüchtern sollte man in diesen Tagen auch nicht auf Russland schauen, - sonst kriegt man die Wahrheit nie raus.

Apropos Wahrheit: Ist es eigentlich gut und nützlich, allzu progressiv zu sein? Der berühmte Ogarew (Nikolaj Ogarew, 1813-1877, russischer Adeliger, Sozialrevolutionär und Schriftsteller, Anm.d.Ü.), war seiner Zeit voraus und hat bereits im Jahr 1840 seine Bauern in die Freiheit entlassen - im Übrigen mit Landzuwendungen. Als er ihnen das mitteilte, dachte er, sie würden ihm um den Hals fallen und Freundschaft mit ihm schließen. Sie aber begannen wie im Chor zu schluchzen und zu klagen: "Wir brauchen keine Freiheit, wir brauchen nur einen guten Gutsherrn!" Als sie verstanden hatten, dass die Sache entschieden ist, nahmen sie die Freiheit zwar an, waren aber stinksauer auf ihren Gutsherrn. Selbst in der Kirche gingen sie nicht auf ihn zu. Ihn hat das sehr bedrückt. Aber es war nicht mehr zu ändern. Heute würde Ogarew seine Schlüsse ziehen und natürlich für "Einiges Russland" stimmen.

Demokratiemodell

Haben Sie noch Zeit für ein kleines Gleichnis, wie wir es hier alle so lieben? Gut:

An einem warmen Herbsttag fuhr ich mit dem Zug. Die Luft war stickig, die Fenster aber waren fest ge- und verschlossen. Erinnern Sie sich, einst hatte es diese Lüftungsklappen gegeben ... "Kommen Sie, öffnen wir das Fenster irgendwie", sage ich zum Schaffner.

"Das ist nicht möglich, wir haben ja eine Klimaanlage".

"Aha. Also schalten Sie sie ein", sage ich.

"Hat man uns verboten. Die Leute verkühlen sich und beginnen sich zu beschweren".

"Nun gut. Aber wozu heizt Ihr dann den Waggon bei so einer Hitze?", frage ich.

"Das ist eine Zentralheizung, die Wärme wird von der Lokomotive abgegeben", hält der Schaffner fest.

Im Großen und Ganzen also nichts zu machen ... Machtvertikale, nicht wahr?

Es blieb mir also nichts übrig als den Chef des Zuges zu rufen und ihn mit großer Aufregung zu zwingen, mit Hilfe des Schlossers den ganzen Fensterrahmen im Gang herauszunehmen.

Ich stand im warmen Wind und beobachtete die mittelrussischen Landschaften. Gegen Abend wurde es kühler, und man setzte den Rahmen wieder an der entsprechenden Stelle ein.

Wissen Sie, so ist eben das Demokratiemodell, das nicht mit automatischer, sondern mit Handschaltung funktioniert. Wozu brauchen wir Gouverneurswahlen oder gar ein Impeachmentverfahren, wenn man ja genauso gut ernennen und mit einem Wink entlassen kann? Noch dazu im Handumdrehen? Wohin eilst Du, Zug ohne Lüftungsklappen und ohne Klimaanlage? Man erhält keine Antwort.

Ich hatte ja auch gar nicht gehofft, eine zu erhalten.

Stattdessen aber doch so etwas wie Stabilität. Und Sicherheit. Diese Themen regen die Leute von unten bis oben auf. Nicht nur die Gastarbeiter, die von den gewöhnlichen Polizisten ausgenommen werden. Vielleicht haben Sie es ja bemerkt: Nach dem August 1991 war die erste Aktion derer, die gesiegt haben, dass sie rund um das Regierungsgebäude einen bemerkenswert hohen Eisenzaun errichtet haben. - Und dennoch, vor dem Hintergrund all dieser Seltsamkeiten und Zweifel hat einer meiner Bekannten gesagt:

"Der Borja (Boris Nemzow, Expremier und führendes Mitglied der liberalen Oppositionspartei SPS) ist schon wundersam. Aber mir gefällt, dass er dasteht wie ein Fels, allein im stürmischen Meer. Und er pfeift darauf, dass er allein ist. Das ehrt einen Mann. Ich werde für ihn stimmen ... Für wen denn sonst? Für wen denn?" In der Tat: eine gute Frage.

Eines schönen Tages habe ich bemerkt, dass jedes Volk seinen Grundzustand hat. Die Deutschen kämpfen gut, die Franzosen essen Delikatessen, die Chinesen arbeiten sich wund, und so weiter, und so fort. Die Russen aber befinden sich in einem permanenten Katerzustand. Und in diesem treffen wir uns auch nach den Wahlen wieder ... (DER STANDARD, Printausgabe, 1.12.2007)