Nur keine Verwechslungen. Mehr "Handlungsfähigkeit" ist nicht gleich mehr Demokratie. Der EU mangelt es an beidem. Ersteres wird mit dem in Lissabon ausgehandelten Reformvertrag leidlich behoben. Letzteres nicht. Die Institutionen werden an die Erweiterungen der letzten Jahre angepasst, Beschlüsse durch Mehrheitsentscheidungen vereinfacht. Ein Ratspräsident wird für mehr Kontinuität sorgen. Ein De-facto-Außenminister wird der EU Gesicht und Stimme nach außen geben. Das ganze Brüsseler Werkl wird etwas runder rennen.

Eine demokratische Verfassung sähe anders aus. Von einer Gewaltenteilung kann nach wie vor keine Rede sein. Auf lange Zeit ist jetzt festgeschrieben, dass die von den Nationalstaaten nach Brüssel abgegebenen Kompetenzen dort vordemokratisch in einem komplizierten und schwer durchschaubaren Institutionen-Dschungel verwaltet werden.

Die Bürger dürfen sich dennoch über zwei kleine Fortschritte freuen. Einmal hält die so genannte "Charta der Grundrechte" europäische Bürgerrechte erstmals rechtsverbindlich fest. Noch interessanter aber st ein zweiter demokratischer Krümel, der von den Lissabonner Verhandlungstischen abgefallen ist: Das "Europäische Bürgerbegehren". Mit einer Million Unterschriften aus einer "erheblichen Anzahl" von Mitgliedsstaaten werden EU-Bürger einen Gesetzesantrag an die EU-Kommission stellen können. Die Kommission, sie behält exklusiv das Initiativrecht für Gesetzesvorlagen, muss sich damit beschäftigen und zumindest begründen, warum sie der Initiative nicht Folge leisten will.

Zugegeben, dieses weltweit erste Element transnationaler direkter Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, das unmittelbar nur wenig bewegen kann. Die Kompetenz, Gesetze zu beschließen, verbleibt alleine beim europäischen Rat der nationalen Fachminister oder Ministerpräsidenten. Das Parlament, das sich noch am ehesten einem Bürgerbegehren verpflichtet fühlen würde, hat nur Mitspracherechte. Die Prognose, dass Europäische Bürgerbegehren ein ähnliches Schicksal erleiden werden wie bislang die diversen Bürger- und Volksbegehren in den Nationalstaaten fällt daher nicht schwer.

Aber: Bürger- und Volksbegehren schaffen Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Sie wirken mobilisierend, fördern die politische Bildung, vor allem aber würden sie jeweils zu bestimmten Themen eine staatenübergreifende Öffentlichkeit schaffen.

Das wird der größte Gewinn sein. Denn bisher zerfällt Öffentlichkeit für gemeinsame europäische Agenden immer in eine Vielzahl spezifischer nationalstaatlicher Wahrnehmungen und banalisiert sich dort: Wie viele Kommissare oder Abgeordnete darf ein Land stellen? Wie viel Geld wurde "herausverhandelt" oder muss nach Brüssel abgeführt werden? Welches Land hat sich "durchgesetzt"? Das sind die Themen und Kommunikationsstrategien von oben. Sie sind, wie die diversen Umfrageergebnisse in den Mitgliedstaaten zeigen, fundamental gescheitert.

Wenn nun Bürger aus mehreren europäischen Ländern ein gemeinsames politisches Ziel formulieren und transnational Unterstützer für dieses Anliegen werben, mit dem sich die Europäische Kommission auseinandersetzen muss, dann werden die etablierten Kommunikations- bzw. Abschottungsstrukturen durchbrochen.

Der Vorgang wird dabei bedeutender sein als die jeweilige Fragestellung. An Themen mangelt es ja nicht, eine Million Unterschriften sind zudem bei 493 Millionen EU-Bürgern kein unüberwindliches Hindernis. So sammelte etwa von Jänner bis Oktober dieses Jahres das "Europäische Behindertenforum" (European Disability Forum) 1,2 Millionen Unterschriften für eine EU-Gleichstellungsdirektive; über 600.000 Unterschriften haben europäische Anti-AKW-Initiativen bisher für ihre Forderung nach einem Auslaufen des Euratom-Vertrages gesammelt ...

Mit Inkrafttreten des Reformvertrages werden solche Initiativen aufgewertet. Sie haben mit der EU-Kommission einen Adressaten, ein klares Ziel, nämlich ein Gesetz, und ein geregeltes Prozedere, das beiderseitigen Erklärungsbedarf und damit - zumindest in Teilbereichen - Öffentlichkeit schaffen wird. Das ist ein Fortschritt. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2007)