In Italien wächst die Zahl der Ausländer rasch - doch die Einwanderungspolitik verkommt zum populistischen Streitobjekt der Parteien - Gerhard Mumelter aus Rom

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Es tropft von der Decke. Eine an Nägeln festgezurrte Kunststoffplane lässt das Wasser in ein blaues Plastikschaff tropfen. Von den feuchten Wänden des fensterlosen Raums bröckelt der Putz. Das Wasser sickert aus der oberen Etage durch die Decke. Es riecht nach Spülmittel und Bratfett. Einmal stündlich wuchtet Florian das blaue Schaff zum Entleeren ins Bad. Dann legt sich der kräftige Rumäne wieder aufs Bett.

"Wir sind aufs Betteln angewiesen"

Stehen können die zehn Insassen des Zimmers nie gleichzeitig. Der Durchgang zwischen den Betten ist zu schmal. Alle zehn sind Roma mit rumänischem Pass. Alle sind arbeitslos. Claudia hat ihren illegalen Arbeitsplatz verloren. Ein Betrunkener hat sie mit dem Motorrad angefahren. Die 18-Jährige liegt mit einem Gipsbein auf dem Bett und hofft auf das Geld der Versicherung. Nur mit Mühe kann sich Florian auf Italienisch verständigen. "Wir sind aufs Betteln angewiesen", klagt der 37-Jährige und deutet auf seine neugeborenen Zwillinge. "Uns fehlt auch das Geld für Windeln und Babynahrung." Florian und seine Frau wollen nach Rumänien zurückkehren. Doch das Sozialamt der Stadt Rom verweigert ihnen das Geld für die Fahrt.

Aufzüge sind seit Jahren außer Betrieb

In den düsteren Gängen des mächtigen Wohnblocks liegt Müll. Die Bewohner bewegen sich mit Taschenlampen, die Aufzüge sind seit Jahren außer Betrieb. "Residence Roma" steht über dem Eingangstor. Im vermüllten Innenhof herrscht ein reges Kommen und Gehen: Bewohner, Gäste, Ukrainer, Senegalesen, Dealer, Straßenverkäufer, Prostituierte, Mütter mit Kindern. Das heruntergekommene Gebäude ist ein Symbol für die problembehaftete Ausländerpolitik der italienischen Hauptstadt.

Wohnen im auf der Terrasse

Sonntags verlässt Narcisa ihre Unterkunft und bittet vor einer Kirche um Almosen. "Nicht hier. In einem anderen Stadtteil", erklärt sie. Viermal wöchentlich putzt die 35-Jährige im Haus einer Anwältin. Ihre 16-köpfige Familie lebt in einem Raum und einer Art Zelt auf der Terrasse des Wohnblocks: fünf erwachsene Roma und elf Kinder.

Warmes Wasser gibt es nicht. Nachts huschen Mäuse über die Betten. Narcisa fingert ein Foto ihres herzkranken Sohnes Adrian aus einem gelben Umschlag: "Er ist in diesem Raum gestorben. Es war zu kalt und zu feucht." Aus ihrem Tonfall klingt keine Verbitterung. Zurück nach Rumänien will Narcisa auf keinen Fall. "Die Zukunft kann nur besser werden", gibt sie sich überzeugt.

Düstere Aussichten

Doch für Italiens 160.000 Roma und Sinti sind die Aussichten düster. Fast alle leben unter menschenunwürdigen Bedingungen in meist illegalen Barackensiedlungen. Seit Jahrzehnten schieben Staat, Regionen und Gemeinden sich gegenseitig die Schuld an der Misere zu. Nur Tragödien wie der Tod von vier Kindern beim Brand einer Baracke in Livorno oder der jüngste Mord in Rom rücken das ungelöste Integrationsproblem kurzfristig ins Schlaglicht der Presse. Medienwirksam räumte die Polizei nach dem Mord das Lager am Ponte Milvio, in dem der junge Täter gehaust hatte. Wenig später begannen die Vertriebenen, im Schutz der Schilfgürtel des Tiberufers neue Baracken zu errichten.

Abschiebung wäre Tragödie

"Wohin sollen wir denn gehen?", fragt Emilia verzweifelt, während ihr Mann aus Brettern, Karton und Planen eine behelfsmäßige Unterkunft zimmert. Die junge Frau rückt ihr buntes Kopftuch zurecht und drückt ihrer verstörten vierjährigen Tochter die Mütze ins Gesicht. Emilia arbeitet schwarz als Altenpflegerin bei einer Familie. "Eine Abschiebung wäre eine Tragödie für uns", versichert sie.

Zur Prostitution gezwungen

Tausende Immigranten drängen sich in den kleinen Favelas der Hauptstadt - Dritte Welt mit Blick auf die Kuppel des Petersdoms. Seit Monaten fordern die Bürgermeister der Großstädte Vollmachten, um der Lage Herr zu werden. Vergeblich appellierte Roms Bürgermeister Walter Veltroni an seine kommunistischen Koalitionspartner: "Sicherheit ist weder links noch rechts." Italiens Ausländerpolitik ist seit Jahren eine Mischung aus Improvisation, Ineffizienz und einem Wirrwarr schwer anwendbarer Bestimmungen - jetzt verkommt sie vollends zum populistischen Gezerre der Parteien.

Doch das Land ist am Wendepunkt. Kein anderer EU-Staat duldet derart krasse Formen von Illegalität. Obwohl Prostitution offiziell verboten ist, werden Zehntausende oft minderjährige Frauen aus Osteuropa und Afrika von skrupellosen Zuhältern zur Prostitution gezwungen - offen und am helllichten Tag.

Strafnachlass wegen überfüllter Gefängnisse

Um das leidige Problem der überfüllten Gefängnisse zu lösen, setzte das Parlament kurzerhand mit einem Strafnachlass tausende Kriminelle auf freien Fuß. Unerwünschten Ausländern drückt man einen Ausweisungsbescheid in die Hand, mit dem sie untertauchen können. Zehntausende illegaler Immigranten bieten auf den Gehsteigen italienischer Städte ungehindert gefälschte Markenwaren an.

Maßnahmen zur Beruhigung der Öffentlichkeit

Gesetze werden häufig unter dem Eindruck tragischer Ereignisse verabschiedet und sind wegen Hudelei oft nicht anwendbar. Es war eine Reportage des bekannten Journalisten Fabrizio Gatti über die brutale Versklavung von Immigranten bei der Tomatenernte, die die Regierung zum Erlass eines Gesetzes bewegte. Ein von einem betrunkenen Rumänen verursachter Unfall mit vier Toten führte zur überstürzten Verabschiedung eines neuen Gesetzes, das die Strafen drastisch erhöhte. Doch Maßnahmen dieser Art dienen nur der Beruhigung der Öffentlichkeit. Das Kernproblem bleibt unangetastet: Italien ist ein Land ohne Rechtssicherheit. Strafprozesse dauern bis zu sieben Jahre, über 90 Prozent aller Eigentumsdelikte bleiben ungesühnt. Haftstrafen unter zwei Jahren werden erst gar nicht angetreten. Jedem Häftling wird ein Drittel der Strafe erlassen. Das spricht sich auch unter Ausländern herum.

Neue Ausländerpolitik

Allein im Vorjahr ist die Zahl der Immigranten um 21 Prozent gestiegen. Die Rumänen stellen mit 600.000 Einwanderern nicht nur den größten Ausländeranteil. Sie führen auch alle Verbrechensstatistiken an. Die Zahl der illegal in Italien lebenden Einwanderer ist unbekannt. Das Land benötigt dringend eine neue Ausländerpolitik. Doch das von der Regierung verabschiedete Gesetz hat im Senat keine Chance. So verkommt das brisante Thema immer mehr zum populistischen Streitobjekt der Parteien. Für Italiens Zukunft verheißt das nichts Gutes.(Gerhard Mumelter aus Rom/ DER STANDARD Printausgabe 8.11.2008)