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Erfühlen, was am Ende eines Menschenlebens passiert, ist bei der palliativen Patientenbetreuung Voraussetzung, sagen Karl Bitschau und Herbert Watzke

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Karl Bitschnau (46) ist Diplomsozialarbeiter und als Spezialist für Palliative Care (MAS) seit 1993 Leiter der Hospizbewegung Vorarlberg. Bitschnau unterrichtet Palliative Care beim IFF-Uni-Lehrgang und an der Paracelsus Privat-Uni Salzburg. "Durch eine schwere Erkrankung war ich gezwungen, mich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Es mag paradox klingen, es war heilsam," so Bitschnau. Er lebt in Hohenems, ist verheiratet und hat drei Kinder.

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Herbert Watzke (53) ist Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Hämatologie und Onkologie und leitet die von ihm initiierte Palliativstation am AKH Wien. Seit 2005 ist er Professor für Palliativmedizin an der Med-Uni Wien. Der Krebsmediziner begann sein Engagement, "weil Patienten mit schwersten Erkrankungen in der Phase ihres Sterbens im bestehenden System nicht adäquat versorgt sind". Watzke ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt in Wien.

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Julia Harlfinger bat Karl Bitschnau, Leiter der der Vorarlberger Hospizbewegung, und den Palliativmediziner der Med-Uni Wien, Herbert Watzke, zum Gespräch über Leben und Tod.

STANDARD: Täuscht der Eindruck oder sterben im Herbst mehr Menschen als sonst?

Watzke: Als Arzt bemerkt man keinen großen Unterschied, doch es gibt durchaus Erkrankungen, die jahreszeitlich bedingt höhere Todesursachen haben. Suizide bei Depression sind im Oktober und November signifikant häufiger. Herzinfarkte treten im Winter vermehrt auf und enden öfter tödlich.

Ebenso sind tödlich verlaufende Infektionen wie Grippe oder Lungenentzündungen im Winter häufiger. Für den Tod infolge einer Krebserkrankung gibt es keine saisonalen Häufungen.

Bitschnau: Man hat oft den Eindruck, dass es Zeiten gibt, in denen mehr gestorben wird als sonst. Um Allerheiligen und Allerseelen gerät das Sterben stärker ins Bewusstsein – und die Seele öffnet sich für dieses Thema.

STANDARD: Wird für einen Arzt der Tod eigentlich Routine?

Watzke: Routine ist hier völlig fehl am Platz. Das Sterben ist ein extrem individueller Prozess. Jeder lebt sein eigenes Leben, jeder hat andere Bedürfnisse am Ende und jeder stirbt seinen eigenen Tod. Alle – also Pfleger, Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte – müssen auf die jeweilige Situation des Patienten eingehen. Nur so können wir ein menschenwürdiges Sterben erreichen.

STANDARD: Welche Bedürfnisse haben Sterbende?

Bitschnau: Wenn man länger mit dem Patienten zu tun gehabt hat, dann spürt man das. Auch wenn die Kranken sich nicht einmal mehr durch Gestik, Mimik oder gar Worte ausdrücken, können sie sehr präsent wahrnehmen, was im Raum passiert. Die Pflegefachkräfte haben ein gutes Gespür, wann jemand so weit ist.

Watzke: Wir hatten eine Patientin, die immer picobello in ihrem Bett saß. Sie wurde noch fünf Minuten vor ihrem Tod frisiert. Die Schwester wusste einfach, dass die Patientin das Frisieren immer besonders genossen hat.

STANDARD: Welche körperlichen Symptome treten in den letzten Stunden auf?

Watzke: Viele Menschen schlafen ohne jegliche Symptome einfach ein. Wenn Beschwerden auftreten, ist es meistens Aufgeregtheit und Unruhe. Manche wälzen sich im Bett. Manche beginnen mehr oder weniger laut zu stöhnen. Die Atmung verschlechtert sich, und man hört Rasselgeräusche. Es ist sehr wichtig, dass die Ärzte mit dieser Situation richtig umgehen können. Man weiß leider nicht genau, ob der Patient dies auch so negativ empfindet.

Aber als Palliativmediziner denkt man, dass sich der Patient so nicht wohlfühlen kann. Also sorge ich dafür, dass Schwerkranke ruhiger schlafen und ruhiger atmen. Auch für die Angehörigen ist es extrem wichtig, dass der Patient friedlich einschläft und nicht – in ihren Augen – in den letzten Stunden seines Lebens fürchterlich leiden muss.

STANDARD: Welche Medikamente kommen in der terminalen Phase zum Einsatz?

Watzke: Am häufigsten Beruhigungs- und Schmerzmittel sowie Medikamente, um die Atmung zu erleichtern.

Bitschnau: Ich bin dankbar, dass es heute sehr viele Unterstützungsmöglichkeiten und Erleichterungen in Form von Medikamenten gibt. Doch es braucht sehr viel Fingerspitzengefühl. Das Zugehen auf den Tod verursacht eben Unruhe – vielleicht sollte man sie nicht immer behandeln, damit dieser Prozess auch weitergehen kann. Andererseits könnte es auch zynisch sein, jemanden in seiner Unruhe völlig sich selbst zu überlassen. Ich denke, da ist noch einiges nachzuforschen.

Watzke: Unsere Forschung konzentriert sich momentan darauf, ob und wann Antidepressiva, Antibiotika oder Chemotherapien für Schwerkranke in den letzten Lebenswochen und -monaten sinnvoll sind. Es gibt aber meines Erachtens keine Möglichkeit, auf wissenschaftliche Weise zu erheben, welche Medikamente Sterbende bekommen sollen. Die Wissenschaft braucht immer die Antwort derer, die sie beforscht. Deswegen müssen wir uns hier auf unser Gefühl und unsere Erfahrung verlassen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Depressionen bei schwerkranken Menschen?

Watzke: Die meisten Krebspatienten bekommen Antidepressiva – unter anderem deswegen, weil dann Schmerzmittel besser wirken. Und sicherlich auch, weil Antidepressiva den Umgang mit der Krankheit erleichtern und der Patient nicht ständig an seinen Krebs denkt. Einengung ist nämlich ein Zeichen der Depression.

Bitschnau: Schwerkranke Menschen am Ende ihres Lebens sind oft demoralisiert, wenn sie das Gefühl haben, ohnmächtig und ausgeliefert zu sein oder nichts mehr bewegen zu können. Doch man kann kleine Dinge finden, die diese Personen noch für sich selbst erledigen können, damit ihnen das Leben nicht ganz entgleitet. Andererseits habe ich nirgendwo so tiefgründigen Humor erlebt wie im Hospizbereich.

Es geht hier nicht um Sarkasmus, sondern darum, dass man über sich selber lachen kann, weil man nichts mehr zu verlieren hat. Die Masken, die man das ganze Leben vor sich trägt, fallen. Das befreit. Und macht auch frei für Humor.

STANDARD: Gibt es eine bestimmte Abfolge von Stadien, die Sterbende durchlaufen?

Bitschnau: Die Pionierin der Sterbeforschung Elisabeth Kübler-Ross hat einige wesentlich Stationen beschrieben: Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln, Depression und schlussendlich Zustimmung. Im Grundsatz stimmen die Annahmen von Kübler-Ross auch heute noch. Doch man darf dieses Modell nicht in Phasen denken, wo strikt ein Stadium nach dem anderen kommen muss.

Watzke: Bei Kübler-Ross bekommt man den Eindruck, dass die Patienten im letzten Stadium vor dem Tod mit dem Leben abgeschlossen haben und sich mit dem Tod anfreunden. Das sieht man in der Praxis allerdings selten. Die Mehrzahl der Patienten kämpft bis zum Schluss und will am Leben bleiben. Viele, auch Patienten, die schon sehr lange krank sind, fügen sich – wenn überhaupt – erst in den letzten Stunden in ihr Schicksal.

Bitschnau: Das kann ich bestätigen. Die meisten Menschen hängen am Leben. Sobald Schmerzen und andere quälende Symptome beseitigt oder zumindest relativiert sind, ist der Wunsch nach dem Leben wieder sehr stark da. Eine Situation erlebe ich häufig: Die Angehörigen sind zwar sehr traurig, haben aber akzeptiert, den Patienten gehen zu lassen. Gleichzeitig jedoch ist der Sterbende noch nicht so weit.

STANDARD: Der Sterbende ist also auch mit Erwartungshaltungen konfrontiert?

Bitschnau: Das Bild vom Sterben in Frieden führt dazu, dass Sterbende unheimlich unter Druck kommen können. Es wird quasi erwartet, dass sie ihre letzten unerledigten Dinge noch abschließen. Es ist mir immer ein großes Anliegen, hier Druckentlastung anzubieten.

Watzke: Ich glaube, dass das Sterben und die Palliativmedizin psychologisch und ethisch sehr überlastet waren. Es haben in der Vergangenheit Psychologen über das Sterben gesprochen, die nie dabei waren. Doch wenn man öfter dabei ist, erfährt man, dass es unter Umständen auch ganz anders abläuft, als man es sich wünschen würde. Als Mediziner muss man respektieren, wenn ein Mensch bis zum Schluss kämpft. Auch das gehört zur Würde und Autonomie. Natürlich gibt es auch einige Patienten, die wirklich aufs Sterben warten.

STANDARD: Wie wichtig ist der Beistand der Angehörigen?

Bitschnau: Es ist ein Mythos, dass immer wer dabei sein muss. Die Praxis zeigt manchmal das Gegenteil. Angehörige sind Tag und Nacht da, weil sie das Sterben nicht versäumen wollen. Und der Patienten verstirbt genau dann, wenn man für fünf Minuten aus dem Zimmer geht. Dieses Bedürfnis nach Rückzug wird meiner Meinung nach zu wenig wahrgenommen. Es gibt auch Situationen, in denen wir Angehörige nachhause schicken.

Watzke: Manche Angehörige reiben sich völlig auf und geraten in Stress. Beim Sterben dabei zu sein, ist für sie ein Ausdruck der Fürsorge.

Bitschnau: Natürlich kann die Anwesenheit eines Menschen auch sehr beruhigend auf Sterbende wirken. Schon Goethe meinte, dass die Liebe in bestimmten Situationen ein Palliativum sei. Das erklärt die große Bedeutung der ehrenamtlichen Hospiz-Begleiter.

STANDARD: Ist körperliche Zuneigung für Sterbende wichtig?

Watzke: Bei uns gab es sogar noch eine Hochzeit vier Tage vor dem Tod.

Bitschnau: Es kommt auch zu Versöhnungen am Sterbebett. Im letzten Moment wird noch alles gut – und es kann abgeschlossen werden. Manche Patienten warten, bis sich ein bestimmter Angehöriger verabschiedet hat.

STANDARD: Und dann wird der Tod festgestellt ...

Watzke: Das ist erstaunlich banal – die Atmung hört auf, und am EKG erscheint eine Nulllinie. Das heißt, es gibt keine Herzaktivität mehr, der Kreislauf hat versagt. Dann wird der Tod erklärt.

Bitschnau: Wichtig ist, dass Angehörige ausreichend Zeit haben, sich von Verstorbenen zu verabschieden. Wie liegt der Verstorbene da? Wie sind seine Züge? Das letzte Bild ist sehr wichtig. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.10.2007)