Johnny Erling bat in Peking den chinesischen Künstler Ai Weiwei um einen Einblick. Das Gesamtkunstwerk kam Abteilung für Abteilung, aber wohlbehalten auf dem Pekinger Flughafen an. Zur Erleichterung der deutschen Botschaft, die die Visa ausgestellt hatte, und des Konzeptkünstlers Ai Weiwei trafen alle Teilnehmer vollständig ein. Tausendundeine seiner Landsleute hatte der 50jährige chinesische Künstler in Gruppen zur „Documenta“ nach Kassel geschickt. Ein Jahr lang hatte er seine Aktionskunst im Zeitalter der Globalisierung vorbereitet. Er nannte sie „Fairytale“. Wie viele Märchen fand es ein gutes Ende. Alle 1001 Chinesen kamen wieder nach China zurück. Dabei hatte anfangs niemand außer Ai Weiwei an das Gelingen der für drei Millionen Euro in Szene gesetzten „lebenden Sozialskulptur“ glauben wollen. Sogar die Documenta-Leitung riet dem Künstler ab. Sein Großkraftakt demonstrierte, zu welchen erstaunlichen Projekten Chinas Kunstszene und ihre Protagonisten drei Jahrzehnte nach Öffnung des Landes in der Lage sind. Zeitgenössische Kunst aus dem Reich der Mitte hat heute international ihren Rang und ihren Preis gefunden. Das lässt sich an den Ausschlägen auf den Fieberthermometern internationaler Auktionen ablesen. Bei Sotheby`s Hongkong durchbrach Anfang Oktober der für seine Ölbilder lachender Chinesen bekannte „zynische Realist“ Yue Minjun eine neue Obergrenze. Sein 1994 gemaltes „Massaker von Chios“, das unschwer als Anspielung auf Chinas Massaker 1989 deutbar ist, übersprang den Schätzpreis zwischen acht bis 12 Millionen HK-Dollar. Es erzielte 31,6 Millionen HK-Dollar (knapp drei Millionen Euro). Mit seinem Bild „Lachender Yue wie ein Papst gekleidet“ hatte der 44jährige Maler erst im Juni bei Sotheby’s in London ähnliche Preise erzielt. Der für seine verfremdeten „Genossen“-Bilder berühmt gewordene Zhang Xiaogang kam im Frühjahr in New York mit dem Bild „Geburt der Volksrepublik“ auf rund 2,3 Millionen Dollar. Ein zweites Werk überstieg die Zwei-Millionen-Dollar-Grenze. Auch im Inland werden Rekorde gebrochen. Liu Xiaodong kam mit seiner Arbeit „Umgesiedelte am Drei-Schluchten-Damm“ auf rund 2,2 Millionen Euro im November 2006 bei der Pekinger Poly-Auktion. Für ein halbes Dutzend weiterer Avantgardisten müssen heute Preise über eine Million US-Dollar gezahlt werden, darunter für Maler wie Wang Guangyi, Fang Lijun, Yang Shaobin, Liu Ye oder Zeng Fanzhi. Beim Höhenflug der chinesischen Kunst setzt sich nach Ansicht des 50jährigen Ai Weiwei „überall der Marktgedanke durch. Wenn Staub verkäuflich wäre, würden wir ihn auch vermarkten.“ Die Szene ist im Aufbruch. Zu Hunderten schießen Galerien, Künstlerdörfer und Art-Factorys im ganzen Land ins Kraut. Das Angebot an interessanten und wirklich guten Bildern sei aber so begrenzt, dass diese, relativ gesehen, nicht zu teuer sind. Mit allem Geld, das in China in den letzten Jahren für die besten Arbeiten der Gegenwartskunst ausgegeben wurde, kann man nicht eine einzige Versteigerung westlicher Impressionisten bezahlen.“ In seinem Atelier im Pekinger Künstlerdorf Cao Changdi erklärt Ai Weiwei die heutige Bandbreite an Themen und Ausdrucksformen mit der Vielfalt, die es in Chinas Geschichte der Kunst immer gegeben hat mit „Weil wir kein religiöses Land sind.“ Die politische Kontrolle sei seit der Öffnung des Landes lockerer. Nicht weil China viel freiheitlicher geworden ist. Sondern, weil die Künstler individuell arbeiten und die Behörden nicht mehr in der Lage sind, sie alle zu kontrollieren. Ai Weiwei hat als Sohn des Dichters Ai Qing, der über 20 Jahre lang politisch diffamiert wurde, Verfolgungen schon als Kind miterlebt. Als sein Vater 1959 nach Xinjiang verbannt wurde, nahm er den Zweijährigen mit. „Ich wuchs in der Wüste Gobi auf“. Erst 1979 wurde der Vater rehabilitiert, bald darauf wieder kritisiert. Ai Weiwei setzte sich 1981 nach den USA ab. „Ich kam aus der Gobi, ging nach New York und blieb zwölf Jahre in den USA.Wenn unvereinbare Dinge zusammenkommen, entsteht etwas Neues und Drittes.“ Das lässt ihn seitdem nicht mehr los. Er verbastelte altchinesische und westliche Stühle zu neuen Sitzskulpturen, imprägnierte eine Vase aus der Han-Zeit mit dem Markenzeichen von Coca-Cola (1994), überdeckte neolithische Keramik mit weißer Industrietünche. Seine Objekte, die der Schweizer Ex-Botschafter in China und Kunstmäzen Uli Sigg entdeckte und sammelte, gehören heute zum Besten der chinesischen Avantgarde. Auf einer Wanderung mit Sigg (Der ist für mich wie ein Bruder“) kam Ai Weiwei auch die Idee zum Märchen-Projekt 1001. Sigg hielt sie für nicht durchführbar. Ai Weiwei ließ sich nicht beirren, 1001 Chinesen, die noch nie im Ausland waren, von Juni an für jeweils eine Woche zum Kulturfestival nach Kassel zu schicken. Sie sollten sich die Documenta ansehen und so selbst Teil eines Kunstwerkes werden. Die Interessenten fand er über eine Ausschreibung auf seiner Webseite. Seine Großaktion kommt heute allen Beteiligten wie ein Traum vor, in dem sie von einem Ort in einen anderen verpflanzt wurden. Mit einem Stab von 40 Mitarbeitern und einem Dutzend Filmteams dokumentierte Ai Weiwei von Anfang an sein Projekt als Momentaufnahme der Gesellschaft Chinas anhand der Erlebnisse von 1001 verschiedenen Menschen. „Alles beginnt, wenn die Bewerber erfahren, dabei sein zu dürfen.“ Aus 1500 Stunden Film edierte er eine siebenstündige Dokumentation, die er zum Ende der Documenta in Kassel vorführte. „Wir zeigten den Film dreimal.Wer ihn sieht, versteht wie China ist.“ Von seinen 1001 Teilnehmern wird er nun mit Briefen überflutet. Das Märchen hat sie nur einen Augenblick aus ihrer Alltags-wirklichkeit in eine andere versetzt. Aber es hat Spuren hinterlassen, Fantasien geweckt und zum Nachdenken verführt.„Wir haben 120 unserer Ausgereisten bisher interviewt“, sagt Ai Weiwei. „Kunst ist Bewegung“. Für ihn bleiben viele sinnliche Eindrücke, welche individuelle Bedeutung Avantgarde-Kunst gewinnen kann. Das steht im Gegensatz zu einem anderen Kunstwerk, an dem Ai Weiwei beteiligt war und von dem er sich bewusst abwendet. Er arbeitete zusammen mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron am Entwurf des „Vogelnests“ mit, dem architektonisch ausgefallenen Hauptstadtstadium. Pekings Olympische Spiele 2008 werden dort eröffnet. Vom Design ist er weiterhin begeistert, will den Bau aber nicht betreten. Ihn stößt die falsche Harmonie und das falsche Lächeln der chinesischen Propaganda ab, die die Spiele und das „Nest“ als Kulissen für ihre politischen Zwecke verwenden. Für sein Kasseler Märchen hatte er ein Logo gestaltet, das sich wie 1 gleich 1001 lesen lässt. Eine Masse, von der er möchte, dass jeder in ihr ein Einzelner ist: „Ich glaube nicht an den kollektiven Ruhm, sondern an den des Einzelnen.“