Cover: Kunstmann
Wie kann man über Bücher schreiben, die man nicht gelesen hat? Das sollte kein Problem sein, das geht auf, sagen wir mal, 51 Zeilen. Bitte sehr:

Zu den Schwierigkeiten eines literarisch interessierten Menschen zählt, dass er ständig von mehr Büchern umgeben ist, als er lesen kann. Das fand auch der französische Literaturprofessor Pierre Bayard, der von Beruf wegen dauernd lesen sollte und dessen Bücherberg ständig anwuchs. Irgendwann gab er die Sisyphusarbeit, diesen Berg abzutragen, auf, wobei ihm klar wurde, dass ihn das in Verlegenheit bringen könnte, wenn seine Studenten merken sollten, dass er ein bestimmtes Werk, über das er vortrug, gar nicht kannte.

Allerdings ging er davon aus, dass diese das Buch sowieso auch nicht gelesen haben würden. Und so reifte in ihm die Erkenntnis, dass hier eine gesellschaftliche Regel wirksam und zugleich ein Tabuthema ist; nämlich dass Leute ständig über Bücher reden, die sie nicht oder kaum kennen. Und er machte daraus – ein Buch.

Bayard verfasste eine Anleitung, wie man über Ungelesenes stets so fachsimpeln kann, als wäre man der Beschlagensten einer. Er gab hiermit "seine fundierte Erfahrung als Nichtleser weiter". Und er wäre nicht Professor, wenn er nicht seinerseits ein systematisch einteilendes, rundum schlagendes und zugleich – man wagt es kaum zu sagen – lesenswertes Werk vorgelegt hätte. Fast zeitgleich mit dem französischen Original ist es vor kurzem bei Kunstmann in München erschienen.

"Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat" geht von der Annahme aus, dass es kanonische Texte gibt, über die man versiert reden können muss, wenn man sich nicht blamieren will. Aber muss man sie deswegen auch wirklich gründlich konsumiert haben? Keineswegs, sagt der Professor. Von Geld und Sexualität abgesehen, werde in wenigen Bereichen so viel Scheinheiligkeit praktiziert wie bei der Belesenheit.

Es sei aber in der Tat viel zielführender – so Bayards zentrale These – ein Buch nicht zu kennen, um darüber intelligent zu reden. Wobei Nichtlesen für ihn eine differenzierte Angelegenheit ist, zu der auch Vergessen, Querlesen und Herumblättern gehört. Ferner gibt er Anleitungen, wie sich Plaudereien über Unbekanntes am besten gestalten lassen.

Zu alldem hat der Autor ein System entwickelt, mit dessen Hilfe er genau ausweist, was er alles nicht gelesen hat und trotzdem beiläufig oder mit Emphase zitiert. Zum Beispiel den "Mann ohne Eigenschaften" gleich zu Beginn oder Joyces "Ulysses" ("Werde ihn wahrscheinlich auch nie lesen"). Hier kokettiert Bayard allerdings mit seiner angeblichen Bildungsferne. Zumindest muss er ja das musilsche Exempel des absolut bücherabstinenten Bibliothekars von irgendwoher kennen, wenn er es so versiert einführt.

Dass wir die "überwältigende Mehrheit der Bücher sowieso nie lesen", stimmt zwar. Aber bei der Lektüre seiner Anleitung zum Illiteratentum beschleicht einen dennoch der Zweifel, ob Bayard nicht doch um einiges mehr gelesen hat als nur die Kataloge und Sekundär- und Tertiär-Digests der Literatur. Oder er ist wirklich der einzig Ehrliche. Dann mögen sich viele andere ebenfalls outen.

Na also, das war wirklich nicht schwer. Material der vorangegangenen Rezension war eine unkorrigierte Leseprobe, die mir der Kunstmann Verlag geschickt hatte und aus der ich mir den Waschzettel, die siebeneinhalb Seiten Vorrede und ein paar Fußnoten aus dem ersten Kapitel zu Gemüte führte; nicht einmal eine im Standard bereits veröffentlichte Kurzrezension habe ich mir vor Augen gehalten, von Google oder Amazon ganz zu schweigen. Das mittlerweile erschienene komplette Buch hab ich nie auch nur aus der Ferne gesehen, es fällt also in die bayardsche Kategorie UB (unbekanntes Buch). Stolz möchte ich darauf verweisen, dass es lediglich eines wenig gesunden Menschenverstandes und ein paar treffender Zitate bedarf, und fertig ist die Buchkritik.

Man hätte sie durch die Anhäufung von ein paar weiteren zünftigen Stellen verlängern können (wie wäre es mit: "… unsere Beziehung zu Büchern ist ein obskurer, von Bruchstücken der Erinnerung heimgesuchter Raum"?) und damit bald bundesdeutsche bzw. Neuzürcher Feuilleton-Länge erreicht. Man hätte auch zum französischen Original greifen können – nein, nicht, um es zu lesen, aber um mit der einen oder anderen, sozusagen en passant eingeflochtenen Bemerkung ("ein wahrer homme de lettres" etwa oder "à la recherche" von irgendetwas) Weltläufigkeit zu demonstrieren und sich als Kritiker etwas unanfechtbarer zu machen.

Allerdings sollte man sich als Rezensent keinen Illusionen hingeben. Über ein nicht gelesenes Buch mehr als gerade einmal ein paar Dutzend Zeilen zu schreiben und wirklich zu wissen, wovon man redet – das erfordert wohl so viel Kunstfertigkeit, dass es einfacher ist, das Buch zu lesen. Man strapaziert dadurch auch etwas weniger die Geduld der Leser, denen gewisse Ähnlichkeiten zwischen Sätzen in der Buchkritik und in den Waschzetteln doch mit der Zeit auffallen. Wie aber "im Gesellschaftsleben, einem Lehrer gegenüber, dem Autor gegenüber, dem oder der Liebsten gegenüber" (das sind alles Kapitel aus dem besprochenen Band) länger dauernde Erörterungen von Nichtgelesenem dennoch möglich sind, darüber soll Professor Bayard ja in seinem neuen Werk einiges Brauchbare geschrieben haben. Vielleicht lese ich es wirklich einmal. (Michael Freund, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 13.10/14.10.2007)