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In Tausenden Seiten hatte sie die österreichische Geschichte literarisch dokumentiert – und hat mit ihrem literarischen Werk den Lesern zugleich einen Widerstand abweisenden, ins Unendliche ragenden Textfelsen, der in seiner steilen Masse die Quasi-Unmöglichkeit seiner Rezeption signalisiert, vor Augen gestellt.

Wien – "Das Meer Nichts, die Insel Traum, das Meer Alles": poetische Ortsnamen im Werk der Marianne Fritz. Das ausufernde Prosawerk dieser großen Einzelgängerin der Österreichischen Literatur, deren Produktivität mit "Vielschreiberin" bei weitem nicht genüge getan ist, entzieht sich jeglicher konventionellen Lektüre. Ihr ganzes Schreiben war, seit 1970, da die in der Steiermark geborene Fritz das Konzept erstellte, mit der intensiven Dokumentation der österreichischen Geschichte der Ersten und Zweiten Republik verbunden – ein allerdings keineswegs historisches Lebensprojekt mit dem Übertitel "Die Festung".

Auch wenn "Die Festung" nicht linear gezeichnet ist, sondern in vielen Vorgriffen und Rückblenden gesponnen ist, folgte Fritz darin unermüdlich einer Liebe zum exakt datierten Chronikalen. Darin verweist sie vorrangig auf vermeintlich simple Kausalitäten, nahm stets geschichtsschweren Bedeutungen und Statussen den von historischer Prosa sonst getragenen Pathos.

1978 erschien ihr erstes Werk "Die Schwerkraft der Verhältnisse", zwei Jahre darauf folgte der Roman "Das Kind der Gewal"t und die "Sterne der Romani", der mit 550 Seiten noch kaum als Vorbote für die folgenden Textfluten gelten kann. Rund 3.400 Seiten umfasste der 1985 bei Suhrkamp erschienene Roman in drei Teilen "Dessen Sprache du nicht verstehst".

Fritz schrieb in Tradition der sprachkritischen österreichischen Literatur, das Nicht-zu-Verstehende, das Hindernde an ihren Texten setzt in Fritz' abweichender Interpunktion, ihren ungewohnte Wortfolgen, dem Weglassen von Artikeln und Hilfsverben an, greift im Schriftbild ein: Unterstreichungen, mal höhere, mal durchlässigere Buchstabendichte, suggerierende Fett- und Kursivsetzungen, Sätze brechen unvermittelt ab, werden ebenso unvermittelt wieder weitergeführt, seitenweise ist der Text in mathematische optik gezwängt, ein Zeichen für "Unendlichkeit" (i.e. die quergelegte 8) ersetzt Wörter, die selbst Fritz zu wuchernd zu sein scheinen. 1996 erschien "Naturgemäß I", 1998 Teil zwei (zusammen an die 7.000 Seiten), bis zu ihrem Tod am Montag hatte sie an "Naturgemäß III" gearbeitet.

Die Figuren, über die Fritz schreibt, tauchen darin auf für den Leser geheimnisvolle Art auf, geheimnisvoll, weil sie als Figuren erst erkannt werden müssen, sich weder ankündigen, noch immer zu erkennen geben (und auch wenn sie das tun, tun sie es wirklich?) und doch entwirft Fritz ihre Figuren mit einer unfassbaren Selbstverständlichkeit anhaftend, sodass sie sich nicht erst erklären müssen.

In dieses Spannungsfeld, das zwischen Unerklärbarkeit, Rätselhaftigkeit und natürlicher, wie vorgegebener Selbstverständlichkeit knistert, setzt Fritz die archivarischen Parameter von Zeitgeschichte und, auch, zukunftssichtiger Moral. Dabei geht sie von einer milden, wissenden Gleichgültigkeit im Sinne einer tatsächlich stets gleichen Gültigkeit der Dinge aus, mit der sie Subjekte, Objekte, Dinge, Orte gleichermaßen sanft aus jeden Formen hebt:

"Daisterja, das war die Stadt; Daisterja, das war der Fluss; Daisterja, das war der älteste Bewohner der Stadt, die hieß wie der Fluss, er wohnte noch immer im Haus der Vergangenheit, auch wenn das Haus der Vergangenheit die Ruine der Vergangenheit geworden war, begraben lag der älteste Bewohner der Stadt, die Steine in seinen Eingeweiden sind es gewesen, die ihn begraben haben, so lügt die Sage; Daisterja, das war der Chor; Daisterja, das war die Bewohnerschaft, eine Nacht haben sie endgültig ruiniert, das heißt der folgende Tag ist es gewesen."
Am Montag, starb Marianne Fritz in Wien. (Isabella Hager / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.10.2007)