Worin liegt die Ordnung, wenn sich jeder bewegt, wie er kann? Mathilde Monniers Choreografie "tempo 76" im Grazer Schauspielhaus.

Foto: steirischer herbst

Graz - Zum ersten Mal außerhalb Frankreichs und überhaupt erst zum vierten Mal zeigte eine der bedeutendsten Erscheinungen der Gegenwarts-Choreografie, Mathilde Monnier, ihre jüngste Arbeit tempo 76 beim steirischen herbst im Grazer Schauspielhaus. Es ist ein leichtes, humorvolles Stück geworden, das durch einen spielerischen Ansatz überzeugt und sich mit Synchronizität - der Gleichzeitigkeit - von Bewegungen beschäftigt. Was im Showtanz über Exaktheit imponiert und im Ballett meist dem Hervorstreichen einer Solofigur dient, aber auch dem militärischen Marschtritt verwandt ist, wird von Monnier einer kritischen Analyse unterzogen.

Für Systeme disziplinierender Koordination von Menschen ist, wie etwa 1927 von Fritz Lang in seinem Film Metropolis so schön choreografisch dargestellt wurde, die Gleichrichtung von Bewegungen oder Handlungen von entscheidender Bedeutung. Deren hochpolitischen Diskurs mischen Monniers elf Tänzerinnen und Tänzer auf: jedoch nicht karikierend, sondern konterkarierend. Zur Musik György Ligetis - mehrheitlich Stücke für Klavier - werden kleine Wunder des Unisono vollbracht, aber nur, um sie wieder in individuelle Handlungen zerfallen zu lassen.

Kunst und Arbeit

Kunstwerke der Gleichschaltung von Tänzern - wie Riverdance oder einst die Filmperlen von Busby Berkeley - faszinieren ein breites Publikum. Denn derlei Koordination bedeutet Schwerstarbeit - die Mischung aus Kunstfertigkeit und Offensichtlichkeit befriedigt vielerorts eine Leidenschaft für das virtuose Ornament. Sein Rhythmus heißt Beherrschung und sorgt für aufregende Ruhe.

Die Identifizierung des Ornaments als Verbrechen durch Adolf Loos ist nicht nur das Signal des Aufbruchs in die Moderne, sondern überdies Zeichen für ein weiteres disziplinierendes Stereotyp, gegen das die Postmoderne seit Jahrzehnten vielstimmig Einspruch erhebt. Was auch in tempo 76 deutlich zu sehen ist.

Hier repräsentieren die Tänzer ganz unterschiedliche Typen und weisen in ihrem Auftreten stets auf Differenzen hin, ob sie nun hingebungsvoll tanzen, Stummfilmszenen simulieren oder eben nur fast dieselbe Kleidung tragen. Immer steht die Verschiedenheit im scheinbar Gleichen zur Debatte: im parallelen Weinen und Lachen, im gleichzeitigen Stakkatogesang oder im Voneinanderabweichen der Krawattenfarben.

So werden verschiedene Methoden des Aus-der-Reihe-Tanzens vorgeführt. Dabei lässt es Monnier an Klarheit nicht fehlen. Virtuoses Sicheinfügen mag zwar Bewunderung erzeugen, doch jedes überraschende Ausbrechen rührt an unser Lustzentrum der Rebellion. Es reizt zum anarchischen Lachen.

Monniers Tänzer reizen das Feld zwischen Entgleisung und Ausbruch weiträumig aus. Und nicht nur sie brechen aus, auch der auf der Bühne ausgelegte Naturrasen enträt seiner Golfwiesen-Getrimmtheit. Er wirft sich an verschiedenen Stellen auf, bis am Ende Luftballons aus ihm wachsen und mit trockenem Knallen zerplatzen. Ein kluges Statement der 48-jährigen Künstlerin, die es wieder einmal hervorragend versteht, konzeptuelle Strategien mit Witz und Sinnlichkeit auf die Bühne zu bringen. (Helmut Ploebst/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 1. 10. 2007)